Zwei Orchester kooperieren über den Atlantik hinweg
Interview Der Dirigent Andris Nelsons zu der Idee, dass Musiker und Publikum in Boston und Leipzig jeweils voneinander lernen
Woher kam die Idee der Kooperation zwischen den Orchestern in Boston und Leipzig, denen Sie ja beide ab Herbst 2017 als Chef vorstehen und die künftig auf mehreren Ebenen kooperieren sollen: gemeinsam in Auftrag gegebene Neukompositionen, Austausch von Musikern, Gastspiele und „Mini-Festivals“mit Musik, Vorträgen, Filmen und Diskussionsrunden in beiden Städten. Was wollen Sie damit erreichen?
Andris Nelsons: Für mich ist die Qualität der Musik immer genauso wichtig wie die Chemie zwischen den Menschen im Orchester und der Aussicht, dass man gemeinsam arbeiten und wachsen kann. In Boston ist das fantastisch und dasselbe Gefühl hatte ich, als ich das erste Mal als Gastdirigent nach Leipzig kam. Und dann kam dieses unglaubliche Angebot, Gewandhauskapellmeister zu werden. Das Team und ich haben sofort über die Idee einer Zusammenarbeit mit Boston gesprochen, weil es auch so viele historische Verbindungen gibt. Das entstand organisch und beide Teams sind sehr enthusiastisch und können es gar nicht mehr abwarten, mit der Kooperation zu beginnen. Wir wollen voneinander lernen und die verschiedenen Ideen und Kulturen erkunden – auch gemeinsam mit dem Publikum.
Wie unterscheidet sich das Publikum in Boston und Leipzig?
Nelsons: Boston ist eines der kulturellen Zentren der USA, das Publikum ist gebildet und kultiviert, manche Zuhörer kommen seit Jahrzehnten regelmäßig. Und Leipzig ist eines der kulturellen Zentren Europas. In beiden Städten sind die Menschen sehr stolz auf ihre WeltklasseOrchester, da sind sie sich sehr ähnlich.
In anderen Städten, wie New York oder Berlin, ist das anders.
Wie sehen Sie Ihre Rolle in diesen politisch turbulenten Zeiten?
Nelsons: Musik hat die Macht und die Energie, Menschen zusammenzubringen, gerade auch in Zeiten wie diesen, wo neue Mauern gebaut werden sollen. Wir haben die Kooperation zwischen Boston und Leipzig natürlich vor der US-Wahl auf den Weg gebracht. Aber sie soll auch zeigen, wie man gleichzeitig stolz auf ein eigenes Orchester und seine eigene Kultur sein kann und sich dennoch für andere interessiert.
Was ist Ihre Vision für Leipzig?
Nelsons: Eine Kombination aus vielem. Es ist ein Orchester mit so einer großartigen Tradition, es ist für mich eine große Aufgabe und Ehre, diese Tradition wertzuschätzen und fortzuführen – und sie vielleicht zu noch mehr und anderen Zuschauern zu bringen. Ich möchte das Beste von mir nach Leipzig bringen, wunderbare Stücke aus der Vergangenheit spielen, aber auch innovative Momente einbauen. Das Orchester hat ja einen Ruf weltweit, wir werden es auf Tourneen präsentieren und CD-Aufnahmen machen. Schon jetzt, wann immer ich in Leipzig in einen Supermarkt gehe, werde ich erkannt. Letztens in einer Apotheke hat mich die Frau hinter dem Tresen so merkwürdig angeschaut und ich dachte schon, es stimmt irgendwas nicht, und dann hat sie gesagt: „Ich komme zu Ihrem Konzert.“
Boston, Leipzig, Ihre Heimatstadt Riga, Ihre Familie – wie wollen Sie das alles logistisch organisieren?
Nelsons: Jeder hat seine Prioritäten – und seine Grenzen. Meine Priorität ist meine Familie, aber jetzt, wo ich eine amerikanische und eine europäische Basis haben werde, wird das auch meiner Familie helfen. Die Orchester in Leipzig und Boston sind wie meine musikalische Familie. Ich werde weniger als Gastdirigent tätig sein und das wird alles planbarer machen. Meine Frau ist als Sopranistin ja berühmter als ich, ich bin so stolz auf sie. Interview: C. Horsten
Andris Nelsons, 38, verheiratet mit Kristine Opolais, gehört zu den respektiertesten Dirigenten seiner Generation. In Riga/Lettland ge boren, leitet er seit 2014 das Boston Symphony Orchestra; ab Herbst 2017 ist er auch Chef des Gewand hausorchesters Leipzig.