Da draußen: das Leben?
Dave Eggers Eine Frau, zwei Kinder, keine Gesellschaft
Braucht der Mensch das Netz der Gesellschaft? Oder bedeutet ein Leben in ihr nicht unweigerlich den Verlust seiner Unschuld und seiner Freiheit? Es ist das große Thema des amerikanischen Starautors Dave Eggers: das Ich im Netz – Halt oder Gefängnis?
In seinem 2016 mit Tom Hanks verfilmten „Hologramm für den König“bedeutet noch das Herausfallen aus dem Netz der Gesellschaft für den Einzelnen die Hölle. In der Wüste: Auflösung des Ich. Der Weltbestseller „Der Circle“dagegen führt die vollständige Durchdringung des Lebens durch Internet und soziale Netzwerke konsequent zu Ende: als Weg in die digitalisierte Diktatur. Wer hier versucht, aus der Gesellschaft zu entkommen, das Ich vor dem Wir zu retten, den kann das vernetzte Kollektiv jederzeit überall aufspüren und zur Eingliederung zwingen. Ende der Freiheit. Und zuletzt in „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ zeigt das gesellschaftliche Netz seine Anlage Unmoral: Wo jeder für sich selber um Verwirklichung ringt und zugleich in Rollen funktionieren muss, gibt es keine Verantwortung mehr für den anderen – aber dafür umso mehr Verletzungen durch den Zwang zur vermeintlichen Normalität. Ende der Unschuld. Puh, Herr Eggers … Und jetzt?
Ist Josie dran. Für sie ist die Existenz in der Gesellschaft unerträglich geworden. Sie musste ihre Zahnarztpraxis aufgeben, weil eine Patientin sie wegen eines vermeintlichen Behandlungsfehlers auf Millionen verklagt hatte. Ihr Gewissen ist zerrüttet, weil ein junger Mann in Afghanistan gefallen ist, den sie als Vertrauensperson zum Eintritt ins Militär ermutigt hatte. Ihre Beziehung ist gescheitert, weil der einst geliebte Carl sich als innerer Zwölfjähriger entpuppte. Geblieben sind die Schäden ihrer verkorksten Kindheit – und ihre Kinder: Ana, fünf, ein Wirbelwind, und Paul, ein feinfühliger Erwachsener im Körper eines Achtjährigen. Mit den beiden bricht Josie nun auf, aus Verzweiflung, und aus Angst, dass es sonst gar kein Entrinnen mehr geben könnte. Weg von allem, nach Alaska, immer weiter Richtung Norden, in einem gemieteten, schrottigen Wohnmobil, ohne eigentliches Ziel.
Ist es nun nicht melodramatisch, wenn Dave Eggers in „Bis an die Grenze“, das von diesem Road-Trip erzählt, die strauchelnde Kleinfamilie auch noch in einer Zeit mächtiger Landschaftsbrände dorthin schickt? Ist es übertrieben, dass er seine Josie in jedem Moment, der auch nur das geringste Ankommen und Wohlfühlen bedeuten könnte, panisch weiterdrängt, weil sie sich von Gespenstern ihres zurückgelassenen Lebens eingeholt fühlt? Vielleicht schon. Und vielleicht geraten dem 47-Jährigen die Bewohner von Alaska und die anderen Nomaden, auf die Josie mit den Kindern trifft, stellenweise arg klischeehaft.
Die Qualität dieses Romans aber liegt in ganz anderem: dass man Eggers nämlich zwischen all den Existenzfragen mal wieder als einfach sehr guten Schriftsteller erlebt (und das war etwa in „Der Circle“nun wirklich nicht der Fall). Sehr fein, wie er die Charaktere von Mutter und Kindern schildert, deren Zusammenwirken beobachtet und entwickelt. Denn selbst, wenn die sich öffnenden Weiten Alaskas mit seinem klar auf die Notwendigkeiten beschränkten Dasein keine Antwort auf die große Frage nach dem richtigen Leben liefern mögen: Abseits der Ablenkungen und Einengungen der normierten Wohlstandsgesellschaft entfalten sie einen neuen Blick füreinander, für die Welt und auf sich selbst. Josie, Paul und Ana können wachsen. Als Menschen.
Aber ist das kein Klischee? Das Smartphone weglegen, den Fernseher ausschalten, sich umsehen, draußen: Der Frage lohnt es doch nachzugehen.