Eine Jagd ums Leben
Lukas Bärfuss „Hagard“ist eine Zumutung, ein Gewinn
Diesen Roman liest man am besten in schlaflosen Stunden, wenn die Welt und das Leben in der Logik der Nacht so fremd erscheinen. In diesen Stunden ist man für „Hagard“, den neuen, 170-seitigen Roman des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss, am empfänglichsten. Denn die Sicherheiten, um die herum das moderne Leben geführt wird, der Beruf, das soziale Umfeld, die Verlässlichkeit des Terminkalenders, diese Sicherheiten verliert die Hauptfigur Philipp, indem er einem spontanen Impuls folgt. Nur einen Tag später ist nichts mehr so, wie es war, schaut Philipp, ein Immobilienmakler, wie ein Obdachloser aus, blickt er am Ende dem Tod ins Angesicht.
Was ist das für ein Buch, das Bärfuss geschrieben hat? Es ist ein widerspenstiger, beschreibungssüchtiger, ausschweifender Roman – und hat gleichzeitig eine Handlung, die denkbar knapp ist: Während Philipp auf einen Geschäftstermin in einer Schweizer Großstadt wartet, begegnet er im Feierabendgedrängel vor einem Kaufhaus einer Frau. Er sieht sie von hinten, sieht ihre Beine und ihre blauen Schuhe; ohne darüber nachzudenken, ohne zu wissen, was als Nächstes geschieht, ohne zu ahnen, wohin das führt, folgt Philipp ihr – ein rücksichtsloser Jäger, der eine Fährte aufgenommen hat und nicht mehr von ihr ablassen kann, gleichgültig, was kommt.
Das spannt den Bogen zu dem rätselhaften Titel des Romans. „Hagard“findet man in Jagdlexika, dort steht das Wort für einen Jagdvogel, der zurzeit der Gefangennahme sein Alterskleid trägt. Im Französischen bedeutet „Hagard“„scheu“, „wild“, „störrisch“. Auch das passt. Die Hauptfigur, über die ein nicht weiter in Erscheinung tretender Ich-Erzähler berichtet, die Hauptfigur wird buchstäblich wild. Ein Mensch, der in kürzester Zeit gegen alle zuvor beachteten Regeln verstößt und dadurch aus der modernen Welt fällt, der in seiner Not – bei einer Fahrkartenkontrolle verliert er einen Schuh – tragikomische Züge bekommt. Die Frau bekommt er nie zu Gesicht.
Seine Kraft und seinen Glanz bezieht „Hagard“daraus, dass es eine zweite Ebene gibt. Das ist in Sätzen wie diesen zu spüren: „Solange sie ein Geheimnis bleibt, kannst Du glauben. Wenn Du ihr Gesicht siehst, wirst Du alles wissen und nichts mehr entschlüsseln . ... Was wir verstanden haben, ist verloren.“Verhandelt wird hier nicht nur der Mensch und die Liebe, sondern gleichzeitig auch der Mensch und die Religion.
Ob es nun Zufall oder Absicht des Schriftstellers ist, aber in „Hagard“steckt auch „Hagar“(Hebräisch für „Fremde“), die Magd Saras und Mutter Ismaels. Und die Geschichte Abrahams, in der die Magd Hagar eine Rolle spielt, taucht im Roman ebenfalls auf, als Philipp völlig zerrüttet von Straßenpredigern angesprochen wird. Sobald der Leser auf solche religiöse Symbole sein Augenmerk richtet, ist alles voll davon.
Plötzlich ist es nicht nur die große, alles umkrempelnde, auch zerstörerische Liebe, von der Philipp spontan ergriffen wird, plötzlich steht diese Jagd auch für das Erweckungserlebnis eines Jüngers, der dadurch von einem Moment auf den anderen sein Leben ändert. Es kann aber auch der Künstler oder der Wissenschaftler gemeint sein, der alles einer Idee verschreibt – auch dahin weist der Roman in wunderbar dichten Passagen, wenn Philipp dem Vortrag eines Mathematikers zuhört, der von seiner großen Entdeckung berichtet: „Tatsächlich ist es die schwierigste Aufgabe, bei diesen Reisen ins Ungewisse den Verstand nicht zu verlieren.“Ein Roman, der die alltäglichen Sicherheiten hinwegfegt und den Menschen grundsätzlich in den Blick nimmt – eine Zumutung für den Leser und ein Gewinn.