Der intime Blick
Stadthaus Herlinde Koelbl ist durch ihre Serien berühmt geworden: Sie fotografierte Wohnund Schlafzimmer ebenso wie die Kanzlerin. Zuletzt widmete sie sich einem aktuellen Thema
Es gab eine Zeit vor der Merkel-Raute. Als Herlinde Koelbl die spätere Kanzlerin erstmals zu einem Fototermin traf, habe diese gar nicht gewusst, wohin mit den Händen, erinnert sie sich. Mehrere Jahre lang begleitete die Fotografin die CDUPolitikerin, von 1991, als die zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannte Pfarrerstocher aus Brandenburg Bundesfamilienministerin wurde, bis zur Frühphase ihrer Kanzlerschaft. Die SchwarzweißFotos, die Koelbl von ihr schoss, zeigen nicht nur die Spuren des Alters, sie zeigen auch die „Spuren der Macht“. Die gleichnamige Langzeitstudie gehört zu den bekanntesten Arbeiten der 77-jährigen Fotografin, die nun vom Stadthaus Ulm mit einer großen Ausstellung gewürdigt wird.
Herlinde Koelbl, die in Lindau am Bodensee geboren wurde und inzwischen bei München lebt, fand erst spät zu ihrer Berufung. Sie war bereits Mitte 30 und ausgebildete Modedesignerin, als sie ihre Karriere als Fotografin startete. Sie arbeite für renommierte Publikationen wie den Stern oder die Zeit – aber immer auch auf eigene Faust. Projekte wie „Spuren der Macht“oder „Das Deutsche Wohnzimmer“, das 1980 ihren Durchbruch bedeutete, entwickelte sie selbst – und finanzierte sie selbst. „Ich habe ohne Netz gearbeitet“, sagt sie heute. Das zweite große Merkmal ihrer Arbeit ist der zeitliche Rahmen: Serien wie „Spuren der Macht“begleiteten sie mehrere Jahre. Das sei wichtig, um nicht nur an der Oberfläche zu kratzen. „Ich will die Essenz eines Themas bekommen.“
Koelbl, auch Dokumentarfilmerin und Journalistin, ist mehr Beobachterin als Gestalterin. Sie will nicht die Personen durch ihr Zugegensein verändern, sondern sie in ihrer Menschlichkeit zeigen. So wie Angela Merkel, Joschka Fischer oder Gerhard Schröder, die sie für „Spuren der Macht“über einen gewissen Zeitraum einmal jährlich traf – nicht öfter, und nie privat. „Es darf nie eine zu große Nähe werden“, sagt Koelbl. „Dadurch bleibt der Blick frisch.“Wichtig sind für sie aber nicht nur Bilder, sondern auch die begleitenden Texte. Die Gesichter, die Körperhaltung sagten viel aus. Aber um die Lebensphilosophie von Menschen zu vermitteln, brauche sie den Text.
„Herlinde Koelbl – Mein Blick“vereint Arbeiten aus den Jahren 1980 bis 2016. Ganz am Anfang stehen die deutschen Wohnzimmer. Die Fotografin lichtete für diese Werkreihe Menschen in ihrer guten Stube ab – reiche Wirtschaftsbosse ebenso wie alternativ lebende Studenten und einfache Arbeiter. 2000 schloss sie mit einer nun internationalen (und farbigen) Serie „The Photographic Bedroom Tour“an diese an. Das Prinzip blieb gleich: „Ich habe den Menschen nie eine Anweisung gegeben, wie sie sich präsentieren sollen“, erzählt sie. Wahrscheinlich ist es dieses Detail, das ihre Aufnahmen so authentisch wirken lässt. Um einen durchgängigen Stil hat sich Koelbl nie bemüht. Stattdessen sei die Frage: „Welches Stilmittel braucht ein Thema, damit es sichtbar wird?“
Die jüngste Serie in der Stadthaus-Ausstellung ist „Flüchtlinge – Eine Herausforderung für Europa“, entstanden 2016 an verschiedenen Orten. Koelbl besuchte Aufnahmeeinrichtungen und Integrationskurse in Deutschland ebenso wie wilde Lager in Griechenland und an der italienischen Küste, wo viele afrikanische Bootsflüchtlinge landen. Eine Recherche, die Koelbl beeindruckt hat. „Die Umstände sind dort oft menschenunwürdig, aber das Leben geht weiter“, sagt sie. Das wohl bewegendste Foto der Reihe entstand in Sizilien. Es zeigt einen jungen schwarzen Mann, gehüllt in eine Wärmedecke aus goldener Folie, die er trägt wie einen Mantel. Er könnte beinahe ein König aus dem Morgenland sein, so Koelbl. Würde man nicht all das, was er zuvor erlebt hat, in seinem Gesicht sehen können.
Die Essenz eines Themas zu bekommen, braucht Zeit