„Die Leichtathletik hat an Attraktivität verloren“
Interview Der langjährige Sportfunktionär Helmut Digel über die Probleme seiner Sportart und die Straffung der WM
Auf Ihrem Online-Portal haben Sie jüngst Kosten und Aufwand für große Titelkämpfe als „jedes Maß der Vernunft“überschreitend kritisiert. Welche Konsequenzen sehen Sie?
Das Organisieren der verschiedenen IAAF-Weltmeisterschaften ist mit hohem Aufwand und Kosten verbunden. Eine Programmreform der World Athletic Series ist unverzichtbar. Welche Inhalte und welche Dauer sollten die Wettkämpfe haben? Und: Muss man mit so hohen Teilnehmerzahlen arbeiten? Das sind zentrale Fragen.
Die Freiluft-WM ist als einzige durch TV-Einnahmen und Marketingerlöse noch ein Geschäft für den Weltverband IAAF.
Bei der Freiluft-WM haben wir das Problem, dass der Vertrag der IAAF mit der Europäischen Fernsehunion EBU für Europa in diesem Jahr ausläuft. Danach kommen zwei Weltmeisterschaften, die in Märkten stattfinden, die für Europa und europäische Fernsehanstalten nicht attraktiv sind: 2019 in Katar und 2021 in Eugene/USA, wo noch die ungünstige Zeitverschiebung hinzukommt. Und in Katar kann die WM aus klimatischen Gründen nicht im August stattfinden. Seit 50 Jahren gibt es aber in Europa Sehgewohnheitsmuster im Sommer, mit einem privilegierten Platz für die Leichtathletik-WM. Wenn die Leichtathletik mit ihrem Kernprodukt im Oktober stattfindet und in Ländern ohne eine Kultur für diesen Sport angeboten wird, geht man ein enormes Risiko ein.
Gilt dies auch für die Inhalte und Präsentation der 48 Disziplinen bei der WM? Was muss sich ändern?
Auf jeden Fall die Dauer. Der Zuschauer ist nicht mehr bereit, fünf Stunden für eine LeichtathletikAbendveranstaltung im Stadion zu verweilen. Länger als zweieinhalb Stunden sollte eine Abendveranstaltung nicht dauern. An jedem Abend müssten Minimum sieben Finals stattfinden. Die WM darf nicht länger als eine Woche dauern.
Kann man einzelne Disziplinen spannender machen?
Ja, fast jede. Die Dauer der Stabhochsprung-Wettbewerbe ist zum Beispiel viel zu lang. Jeder Athlet sollte zukünftig nur noch fünf Sprünge machen dürfen und die Eingangshöhe selbst setzen können. Setzt ein Athlet die Latte zu hoch, ist das Risiko auszuscheiden groß. Ein Weitsprung, bei dem von 60 Versuchen 40 ungültig sind, ist kein spannender Wettkampf. Kreative Ideen gibt es, leider werden sie in ihrer Umsetzung sowohl von konservativen Funktionären und teilweise von Athleten verhindert. Die Präsentation der Leichtathletik bei den Sommerspielen 2016 in Rio haben Sie als „erschreckend“bezeichnet.
Die Leichtathletik war bis Rio jene Sportart, die vor- und nachmittags Stadien mit bis zu 80000 Zuschauern füllen konnte, weil sie attraktiv war und jeder unbedingt dabei sein wollte. Auf diese Weise war sie die mit Abstand populärste Sportart bei Olympia. Aus einer kritischen Distanz betrachtet, muss man nun feststellen: Die Leichtathletik hat diese Attraktivität verloren.
Selten wurde die Leichtathletik besser präsentiert als bei den Sommerspielen 2012 in London. Wird die WM auch ein großes Fest?
Leichtathletik in London ist kein Risiko. Wir werden eine wunderbare WM erleben, und der Leichtathletik wird ein Durchatmen ermöglicht. Es wäre ein Fehler, wenn man vom Erfolg dieser WM auf die weltweite Situation der Leichtathletik schließen würde. Die ist viel kritischer. Deshalb ist London eine Chance, noch einmal zu zeigen, wie Leichtathletik gelingen kann.
Interview: Andreas Schirmer, dpa
Es ist still geworden um
seitdem der Betrugsskandal im Leichtathletik Weltver band um den früheren IAAF Präsidenten Lami ne Diack auch einen Schatten auf ihn warf. Zwei Jahre nach dem Aus scheiden aus der Führung der IAAF empfindet der 73 jährige Sportwis senschaftler die Vorwürfe „nach wie vor als äußerst verletzend und beleidi gend“. Der in Paris auf seine Anklage wartende Senegalese Diack soll un ter anderem positive Dopingproben gegen Geld vernichtet haben.