Substanz mit Glanz
Multikulti-Stilistik bei „Bach in Rokoko“
Günzburg Wenn Bach es auch in den musikalischen Himmel gebracht hat, manchmal muss er mit einem Besucherplatz Vorlieb nehmen – selbst bei einem Dreitage-Festival, das seinen Namen trägt. „Bach in Rokoko“in der Günzburger Frauenkirche also, und präsentiert von den Augsburger Domsingknaben unter Reinhard Kammler: Vivaldi, Byrd, Vittoria – und Istvánffy? Vom Leipziger Thomaskantor lediglich eine Motette und eine Triosonate zu hören. Das Publikum zeigte sich trotzdem Bach-gestärkt genug für einen romantischen Höhenflug Schubert’scher Seelengewichtigkeit. Insgesamt: Eine stilistisch vielseitige Auseinandersetzung über multitonale Grenzen hinweg.
Die Höhepunkte? Etwa der Vokalzauber zweier Chöre. Einer auf der Orgelempore, der andere in den Höhen über dem Chorraum postiert. Nuanciert und voller Leuchtkraft, klar phrasierend und geradezu schwelgerisch das melodische Material formulierend. Augsburger Domsingknaben eben. Substanz mit Glanz. Nach Tomás da Vittorias (1548–1611) „Popule meus“und drei weiteren seiner vierstimmigen, polyfon gesetzten Motetten, steht mit seinem Londoner Zeitgenossen William Byrd (1543–1623) ein streitbarer Katholik im Umfeld aggressiv anglikanischer Religionskonflikte auf dem Programm …
Dann auch Kyrie und Gloria aus der „Missa sanctificabis“des nahezu unbekannten ungarischen Komponisten Benedek Istvánffy (1733– 1778), zu Eröffnung an Tag zwei. Überwältigend schwungvoll schon das Kyrie, das dann im Gloria, fern aller sakraler Autoritätshoheit, mit ornamentverziertem Wohlklang einen Gefühlswärmestrom aus spätbarocken Ohrenschmeichlern freisetzt. Ein mitreißender Antonio Vivaldi-Höhenflug auch, mit zwei seiner Concerti grossi für Violinen und Streichorchester. Auf dem Powerplay-Fundament des ResidenzKammerorchesters München (Kammler leitete vom Cembalo aus) die mit beschwingter Leichtigkeit aufspielenden Soloviolinen sicher aufgehoben. Und in den neun Teilen aus Vivaldis „Dixit Dominus“-Werkschau fanden sich nicht nur Lichtstrahlen des Wohlklangs, sondern auch der Verwunderung.
Schließlich doch Bach: Mit mehrfachen Komm-komm-Rufen beginnt die Motette für zwei vierstimmige Chöre „Komm, Jesu, komm“(BWV 229). Die Sänger meistern sie stilvoll über alle Kanten und Knoten polyfoner Vertracktheit hinweg, nuancenversessen bis zum langsamen Aushauchen des allerletzten Vokals, bis schließlich alle Innigkeit in sinnliche Erbauung umschlägt.