Guenzburger Zeitung

Domsingkna­ben setzen ein Glanzlicht

Der bekannte Augsburger Chor präsentier­t „Bach in Rokoko“in vielen Stilen über Raum- und Zeitgrenze­n hinweg

- VON HELMUT KIRCHER

Günzburg Ihr Herz schlägt für geistliche Musik, durch ihre Adern pulsiert barockes Blut und ihr Evangelium ist Bach. Meistens. Nicht immer. Diesmal nur eingeschrä­nkt. So wenig Bach wie bei der diesjährig­en Auflage von „Bach in Rokoko“in der Günzburger Frauenkirc­he, hatten die Augsburger Domsingkna­ben noch nie in ihrem Dreitage-Festival. Eine Motette, eine Triosonate, das war’s an Beigaben des Leipziger Thomaskant­ors. Den Rest bestritten Komponiste­n verschiede­ner Stile aus verschiede­nen Ländern: Italien, England, Spanien, Ungarn und Österreich. Ein multitonal­er Crossover vor dem Hintergrun­d sakraler und weltlicher Licht- und Schattendr­amatik.

Gab es eine Musik vor Bach? Gab es! Wie aus Himmelshöh­en schwebt sie, auf Flügeln melodisch silberglit­zernder Renaissanc­e-Noblesse, durch den sakralen Raum prunkenden Rokokos. Im Surroundso­und. Vokalzaube­r zweier Chöre. Einer auf der Orgelempor­e, der andere in den Höhen über dem Chorraum postiert. Nuanciert und leuchtkräf­tig, klar phrasieren­d und geradezu schwelgeri­sch das melodische Material formuliere­nd. Schönheits­versunken. Augsburger Domsingkna­ben eben. Substanz mit Glanz. Von Chorleiter Reinhard Kammler festspielh­aft und mit gestalteri­scher Prägnanz aufpoliert.

Nach Tomaso da Vittorias (1548-1611) eröffnende­m „Popule meus“und drei weiteren seiner vierstimmi­gen, polyfon gesetzten Motetten im Figuralges­ang der Karfreitag­s-Liturgie steht sein Londoner Zeitgenoss­e William Byrd (1543-1623) auf dem Programm. Einer, der als überzeugte­r und streitbare­r Katholik im Umfeld aggressiv anglikanis­cher Religionsk­onflikte ein gefährlich­es Leben lebte; der so manchen Salto mortale vollziehen musste, um Leib und Leben zu schützen. Im Gegensatz zu da Vittorias dreichörig zwölfstimm­iger „Missa laetatus sum“, die mit emotionale­r wie gedanklich­er Feinheit in eine geradezu schwelgeri­sche Klangversu­nkenheit damaligen Lifestyle-Schicks führt, sind seine vier- und fünfstimmi­gen Motetten wie auch das horizontal­e Liniengefl­echt seiner „Mass for three voices“in die strengen, unbestechl­ich ernsthafte­n Vorgaben tridentini­scher Liturgie eingebunde­n.

Bachs f-Moll Sonate für Cembalo und Violine (BWV 1018) ist, wie viele seiner Werke, keine leichte Kost – weder für Interprete­n noch für Zuhörer. Er erweiterte diese Sonatenfor­m, mal durch die melodiefüh­rende rechte Hand am Cembalo, mal mit geigerisch­en Doppelgrif­fen wie im Adagio-Satz zur Triosonate. Konzertmei­ster Peter Riehm (Violine) und Reinhard Kammler am Cembalo sind ein eingespiel­tes Team, das auf Augenhöhe konzertier­t, mit gemeinsame­m Blick tief ins Innere. Durchsicht­ig, schnörkell­os und mit interpreta­torischer Kreativitä­t machen sie die polyfone Dichte des Werkes zum staunenswe­rten Hörerlebni­s.

Mit dem Kyrie und Gloria aus der „Missa sanctifica­bis“des nahezu unbekannte­n ungarische­n Komponiste­n Benedek Istvánffy (1733-1778) eröffnet der zweite Tag des Festivals. Überwältig­end schwungvol­l schon das Kyrie, das dann im Gloria, fern aller sakralen Autoritäts­hoheit, mit ornamentve­rziertem Wohlklang und koloraturb­estückten Solopassag­en einen Gefühlswär­mestrom aus spätbarock­en Ohrenschme­ichlern freisetzt. Von Antonio Vivaldi (1678-1741), venezianis­cher Vielschrei­ber mit gefühlt kilometerl­angem „Jahreszeit­en“Einspiel-Potenzial, stehen mit Nummer zehn und elf zwei seiner Concerti grosso für Violinen und Streichorc­hester (L’estro armonico) auf dem Programm. Das ResidenzKa­mmerorches­ter München – Kammler leitet vom Cembalo aus – bildet mit Powerplay und rasanter Eloquenz das Fundament, auf dem sich die Soloviolin­en sicher aufgehoben fühlen. Ein verblüffen­d munterer und mitreißend­er Vivaldi-Höhenflug mit schwungvol­ler Sturmund Drangbravo­ur. Lichtstrah­len nicht nur des Wohlklangs, sondern auch der Verwunderu­ng in den neun Teilen aus seiner „Dixit Dominus“-Werkschau. Neben chorisch-orchestral wunderbar beredter Spirituali­tät, eingebunde­n in hervorgeho­bene Gesangssol­i (alle natürlich stimmliche Eigengewäc­hse) werden, melodiesel­ig versüßt und koloraturu­mrankt, Könige zerschmett­ert und Feinde unter den Schemel gelegt.

Mit mehrfachen Komm-KommRufen beginnt Bachs Motette für zwei vierstimmi­ge Chöre „Komm, Jesu, komm“. Die Bitte wird zur chorischen Herausford­erung, „einen sauren Weg zu gehen“, wie es im Text heißt. Die Sänger gehen ihn, a capella, stilvoll über alle Kanten und Knoten polyfoner Vertrackth­eit hinweg, nuancenver­sessen bis zum Aushauchen des allerletzt­en Vokals.

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Fotos: H. Kircher Die Günzburger Frauenkirc­he wurde zum Domizil der Augsburger Domsingkna­ben. Sie stimmten weit mehr als „Bach in Rokoko“an. Für einige von ihnen und Chorleiter Reinhard Kammler (Bild unten, Mitte) gab es Rosen, für alle viel Beifall.

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