Nachlese
Irgendwann ist es mir während unseres Urlaubs in Ostfriesland aufgefallen: Über die frisch abgeernteten Felder streiften ständig einzelne Leute mit Plastiktüten und sammelten liegen gebliebene Kartoffeln ein. Durften die das? Anscheinend ja, denn manchmal war der Landwirt sogar noch mit seinem Ernter auf dem Acker unterwegs, ohne sich daran zu stören. Unsere Vermieterin klärte mich später auf: „Das ist bei uns üblich. Wer mag, darf auf den abgeernteten Kartoffelfeldern Nachlese halten.“
Nachlese halten – live und in Farbe hatte ich das noch nie beobachtet, aber der Brauch begeistert mich immer noch. Einfach mal großzügig etwas liegen lassen, das keine Werbung ist und ein anderer sich ungefragt nehmen darf. Was für ein wunderbarer Anachronismus in einer Zeit, in der mit rücksichtslosen Deals wieder salonfähig geprahlt werden kann. Und ein so biblischer Brauch noch dazu: „Wenn du dein Land aberntest, sollst du nicht alles bis an die Ecken deines Feldes abschneiden, auch nicht Nachlese halten… sondern dem Armen und dem Fremdling sollst du es lassen; ich bin der Herr, euer Gott“(3. Mose 19, 9+10).
Nicht bis zum Letzten alles zusammenraffen. Einfach mal etwas liegen lassen und sich nicht aufregen, wenn es jemand nimmt. Keine Kontrollen, keine Zäune, keine Sorgenfalten. Nicht ständig danach fragen, ob der andere das Geschenk verdient. Nicht immer nachrechnen, wie viel Gewinn dabei auf der Strecke bleibt. Wissen, dass selbst der Fleißigste nur einsammelt, was Gott von seinem Segen für ihn liegen lässt und darum auch anderen etwas gönnen können.
Was macht so ein Nachlese-Gebot mit einzelnen Menschen und einer ganzen Gesellschaft? Es befreit von ganz viel Stress. Es macht entspannt und glücklich: Den, der die Nachlese liegen lässt und den, der sie einsammeln darf. Nachlese schenken ist eine Anleitung zum Glücklichsein und ein Stück wahrer Lebenskunst. Wie schön, dass dieser Brauch noch immer lebendig ist.