Drei Tage als Versuchskaninchen
1500 Euro für ein Wochenende: Teilnehmer an Arzneimittelstudien verdienen gut – mit Risiko. Aber: Ein Dienst an der Menschheit?
Das Geld war knapp, ein fester Job nicht in Sicht. Da kam es Kai Brökel* gelegen, dass er für 1500 Euro nur die Straßenseite wechseln musste. Gegenüber seiner Wohnung suchte ein Forschungsunternehmen in Hamburg Teilnehmer für eine klinische Studie. Ein Wochenende lang sollte ein Blutgerinnungsmittel auf Verträglichkeit getestet werden. Brökel machte mit. „Ein Notnagel“, sagt der 48-Jährige. „Mir ging es hauptsächlich darum, schnell Geld zu verdienen.“
Die medizinische Forschung ist auf Menschen wie ihn angewiesen. Vor allem in Großstädten werben Unternehmen und Kliniken massiv um Probanden. Allein in Deutschland werden jedes Jahr nach Angaben des Bundesamts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) rund 1000 klinische Studien genehmigt. Die Prüfungen am Menschen sind ein wichtiger Teil in der jahrelangen Entwicklung von Medikamenten. Doch immer wieder entbrennt Streit über dessen Verlauf.
Auf der einen Seite stehen dabei PharmaUnternehmen, die europäische Zulassungsbehörde EMA und ihr deutsches Pendant, das BfArM. Sie sollen Innovationen für Patienten verfügbar machen. Auf der anderen Seite warnt etwa das Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen vor beschleunigten Entwicklungs- und Zulassungsverfahren – es fürchtet um die Sicherheit von Patienten und Probanden. Zuständig für die Zulassung sind seit 2004 das BfArM, das Paul-EhrlichInstitut im hessischen Langen und die Ethikkommissionen. Diese werden etwa von Universitäten oder Ländern gebildet, um in ethischen und rechtlichen Fragen zu beraten. Bei neuen Wirkstoffen werden die Tests europaweit von der EMA genehmigt.
Klinische Prüfungen laufen gewöhnlich in vier Phasen ab. Phase 1 dient vor allem dazu, die Verträglichkeit und Unbedenklichkeit des Wirkstoffs zu testen. Dieser Teil ist besonders riskant, weil hier oft zum ersten Mal ein Medikament einem Menschen verabreicht wird. Üblicherweise wird die Testsubstanz gesunden Freiwilligen verabreicht, die nicht an der Krankheit oder einem Symptom leiden. Zwar sind schwere Zwischenfälle bei klinischen Studien extrem selten. Doch wenn, dann passieren sie meist in dieser frühen Testphase.
Im Januar 2016 bei einer Phase-1-Prüfung im französischen Rennes: Ein Mensch starb an den Nebenwirkungen eines Medikaments, vier weitere erlitten neurologische Beschwerden. Bei dem Mittel handelte es sich um einen Hemmstoff für das körpereigene Enzym FAAH, der unter anderem gegen Stimmungsund Angststörungen helfen sollte. In London geriet ein Medikamententest im Jahr 2006 ebenfalls außer Kontrolle. Sechs Briten erlitten nach der Einnahme des Antikörpers TGN1412 heftige allergische Reaktionen. Das Medikament greift in das Immunsystem ein. Manche Probanden schwebten in Lebensgefahr. Der Hersteller: ein Würzburger Pharma-Unternehmen, inzwischen insolvent. „Für mich persönlich war das ein Risiko, das ich bereit war, einzugehen“, sagt Kai Brökel über seine eigene Erfahrung. Das Wochenende verlief unspektakulär. „Wir lagen mit vier Leuten in einem Zimmer. Einmal pro Stunde wurde uns Blut abgenommen“, erinnert sich Brökel. „Am Anfang war man schon etwas nervös und hat extrem in sich hineingefühlt, ob man irgendwelche Auswirkungen spürt.“Als nichts passierte, habe sich das gelegt.
In Phase 2 wird das Medikament dann Patienten verabreicht, die an jener Krankheit leiden, die der Wirkstoff bekämpfen soll. In Phase 3 – oft Zulassungsstudie genannt – wird die Gruppe erheblich vergrößert. Geht alles gut, folgt die Zulassung des Medikaments. In Phase 4 wird der Wirkstoff überwacht, während er bereits auf dem Markt ist. „Bei uns laufen parallel stets 50 bis 60 Studien, hauptsächlich Phase 2 und 3“, sagt Petra Thürmann, Direktorin am Helios Universitätsklinikum Wuppertal. „Bei einem Großteil der Studien werden Wirkstoffe im Herzbereich sowie für die Onkologie getestet.“Für Phase-1-Prüfungen an gesunden Versuchspersonen stellen sich auch ihre Studenten und Mitarbeiter zur Verfügung.
Insgesamt können Thürmann zufolge bei Medikamententests acht Jahre oder mehr vergehen. Die Zulassungsbehörde hat deshalb vor einiger Zeit das Verfahren „Adaptive Pathways“(auf Deutsch: Anpassbare Pfade) vorgestellt, um die Zulassung in Sonderfällen zu beschleunigen. Bei diesem Ansatz wird die Arznei erst mal nur für eine kleine Patientengruppe zugelassen, die am wahrscheinlichsten von der Medizin profitiert. „Damit wollen wir Verbesserungen in solchen Anwendungsgebieten erreichen, in denen es bislang zu wenig Behandlungsmöglichkeiten gibt“, sagt BfArM-Sprecher Maik Pommer. Es geht also um Medikamente gegen Krankheiten, für die bislang kaum Mittel vorhanden sind.
Kritiker befürchten, dass das Verfahren Auswirkungen auf Dauer und Ausführlichkeit klinischer Studien haben könnte. Denn eine erste Zulassung könnte dem Verband forschender Arzneimittelhersteller zufolge auch schon nach Phase 2 erfolgen, „wenn sich in diesen Studien für die Zielgruppe bereits ein eindeutig positives Nutzen-Risiko-Verhältnis ergibt“. Kritikern geht das zu schnell. Sie fürchten, dass Medikamente ohne ausreichende Datengrundlage auf den Markt gelangen könnten, und bezweifeln, dass die Daten nach der Zulassung ausreichend nachgeliefert werden oder aussagekräftig genug sind, um Risiken auszuschließen.