Jamaika an die Wand gefahren
Ausgerechnet Deutschland schlittert in eine Phase instabiler Verhältnisse. Nach dem Scheitern einer Regierungsbildung bleiben nur Neuwahlen
Nach dieser historischen Nacht von Berlin werden die Karten in der deutschen Politik neu gemischt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sind die vom Wähler mit einer Mehrheit bedachten Parteien außerstande, eine Regierung zu bilden. Zum ersten Mal nach fast 70 Jahren droht dem Land eine Periode extrem unübersichtlicher Verhältnisse – mitsamt einer nur noch geschäftsführenden, nicht wirklich handlungsfähigen Regierung. Und das in turbulenten Zeiten wie diesen, in denen wichtige außenpolitische Entscheidungen anstehen und ganz Europa auf ein „starkes, stabiles Deutschland“(Frankreichs Präsident Macron) angewiesen ist.
Schneller als erwartet hat sich die Prognose bestätigt, dass die Ausfransung des parlamentarischen Systems auf nunmehr sechs Partei- en die Bildung von Regierungen erschweren wird. Es ist eben nichts mehr so, wie es über Jahrzehnte hinweg war. Acht Wochen nach einer Bundestagswahl ist völlig unklar, wie es weitergehen soll: Das ist für ein Land, das auf politische Stabilität und Berechenbarkeit abonniert schien und damit gut gefahren ist, eine völlig neue Situation. Es ist alarmistischer Unsinn, nun umgehend wieder die Erinnerung an den Untergang der Weimarer Republik heraufzubeschwören. Doch sind die demokatischen Parteien mehr denn je in der Pflicht, ihrer Verantwortung für das Ganze gerecht zu werden. Tun sie es nicht, könnte die Parteienlandschaft weiter ins Rutschen geraten – mit allen Risiken, die damit für die Akzeptanz des demokratischen Systems verbunden sind.
Niemand weiß, ob und wie eine schwarz-gelb-grüne Regierung funktioniert hätte. Im besten Fall wäre es einer Allianz von CDU, CSU, FDP und Grünen geglückt, die Modernisierung Deutschlands voranzutreiben und das insbesondere infolge der Flüchtlingskrise ge- spaltene Land wieder ein Stück weit zusammenzuführen. Im schlechtesten Fall hätte sich „Jamaika“als äußerst fragiles, von ständigem Streit erschüttertes Bündnis erwiesen. Denn die Parteien liegen ja auf zentralen Feldern der Politik weit auseinander und hatten dementsprechend größte Mühe, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Gescheitert ist das Experiment letztlich an der FDP und deren Angst, zum schwarz-grünen Anhängsel zu werden. Die Liberalen haben sich in letzter Minute aus parteitaktischem Kalkül vom Acker und einen schlanken Fuß gemacht. Aber auch Union und Grüne, die sich nun in seltener Eintracht die Hände in Unschuld waschen, haben zu dem Schlamassel beigetragen. Allen Unterhändlern fehlte es an dem nötigen gegenseitigen Vertrauen, allen an einer konkreten Vorstellung da- von, wohin die Reise nach „Jamaika“eigentlich führen sollte. Die Parteien der sogenannten bürgerlichen Mitte haben dieses Projekt gemeinsam an die Wand gefahren. Und Angela Merkel hat es nicht geschafft, den Wählerauftrag zu erfüllen. Ihre Methode, Konflikte zu moderieren und nicht den Weg zu weisen, hat diesmal versagt. Die gescheiterte Regierungsbildung ist eine schwere Niederlage für die Kanzlerin, deren Autoritätsverlust offenkundig ist. Es ist der Anfang vom Ende der Ära Merkel.
Was nun? Eine MinderheitenRegierung ist, auf Dauer jedenfalls, keine tragfähige Lösung. Es gibt nur zwei realistische Optionen: Neuwahlen oder eine Große Koalition. Wenn die SPD – und danach sieht es aus – trotz des Zuredens des Bundespräsidenten ihr Glück in der Opposition suchen und Merkel nicht aus der Klemme helfen will, dann bleiben nur Neuwahlen. Dann wird der Bürger sein Urteil über das Schauspiel jener „Jamaikaner“fällen, die eine Chance vertan und dem Land einen schlechten Dienst erwiesen haben.
Mangel an gegenseitigem Vertrauen