Gegen den Missbrauch als Kampfbegriff
Die erste Begegnung mit dem politischen Begriff Heimat, das dürfte in der Volksschule gewesen sein. Es war die Heimatkunde – am Ende das Lieblingsfach – in einer historisch bedingt begrenzten Heimat. Es war damals ein langsames Begreifen dessen, was in der engeren Umwelt (ein damals noch kaum benutztes Synonym für Heimat) gerade passiert und schon passiert ist. Politische Grundbildung auf kommunaler, Geschichtsunterricht auf der sehr greifbaren örtlichen Ebene. Aber wie soll man einem damals Acht- oder Neunjährigen Anfang der 60er Jahre beibringen, dass seine oberfränkische Geburtsheimat bei Coburg nicht grenzenlos ist? Dass die Weltpolitik in sein nächstes Umfeld aktuell einwirkt – was weiß ein Kind schon vom Kalten Krieg? Dass der greifbar nahe Thüringer Wald unerreichbar in der DDR liegt, die sich mit einem martialischen Grenzzaun abgeschottet hat?
Ein guter Lehrer kann das. Indem er mit seinen Schülern möglichst oft die Heimat in alle Richtungen rund um die Stadt erläuft. Bis es nicht mehr weitergeht. Weil Straßen und Wege plötzlich gesperrt sind, die sich jenseits der Demarkationslinie aber fortsetzen, als sei nichts geschehen. Weil dort bewaffnete Männer patrouillieren, die jegliche Freundlichkeit vermissen lassen. Weil Minen den schmalen Landstrich undurchdringlich machen. Diese Heimatkunde prägt – ein Leben lang. Ein Besuch dort ist auch nach über 50 Jahren ein Stück Heimkehr, nicht zuletzt weil die heimatvertriebenen Großeltern (da ist das Wort Heimat schon wieder) dort begraben liegen. Heute ist es auch verbunden mit der Freude, dass die Grenzen von einst Geschichte sind.
Heimat ist also immer auch ein sehr politisches Thema. Und nun aktueller denn je, weil alle Parteien um eine Definition und um ihr Verhältnis zu dieser Heimat ringen. Das hat sehr viel damit zu tun, dass die Zuwanderung fremder Menschen das Land gerade verändert, was auch zu Angst und Verunsicherung führen kann.
Aber wo ist die Heimat wirklich? In einer Straße, in einem Dorf, in einem Stadtviertel, in einer Region, in einem Land – vermutlich umso kleinräumiger, je weiter man sich von ihr entfernt? Ist sie dort, wo ich herkomme, wo ich geboren bin? Wo ich zur Schule gegangen bin? Wo ich gerade lebe? Wo mir die Menschen am nächsten sind? Wohin ich Heimweh verspüre, ein Sehnsuchtsort? Wo die Eltern vielleicht noch leben, oder wo sie begraben sind? Wo die Familiengeschichte sich abgespielt hat oder abspielt? Wo ich verstanden werde und alles verstehe, mich im Kleinen sicher fühle? Wo ich ein Teil davon bin? Wo mir das Essen, das Bier oder der Wein am besten schme- cken? Wo ich beerdigt werden möchte? Ist die Heimat das, „was uns lieb und teuer ist“, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel für Deutschland im Sommer 2016 nach der großen Flüchtlingswelle formuliert hat? Jeder soll und kann Heimat für sich selbst spüren und festlegen. Heimat muss ebenso erarbeitet wie gefunden und sie muss gelebt werden. Sie lässt sich nicht verordnen. Heimat stiftet auch Identität.
Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Heimatvertriebene in einer neuen Heimat ansiedeln müssen – nicht nur ein unvorstellbarer Kraftakt für ein zerstörtes, ohnehin darniederliegendes Land. Aber das Sudetenland, Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen sind im Herzen dieser Menschen bis heute die eigentliche Heimat geblieben. Ihre Zusammenkünfte in der Fremde haben sie Heimattreffen getauft. Und dieses unbestimmte Gefühl des Hingezogenseins hat sich zumindest teilweise auf die nachfolgenden Generationen übertragen, weil auch die Wurzeln der Familie ein Teil der Heimat sein können.
Bayern hat mit Markus Söder seit 2013 einen Heimatminister quasi im Nebenberuf – in Deutschland lange ein Unikat, bis 2017 die neue schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nachgezogen hat. Die Vereinigten Staaten haben sich nach den Terroranschlävermutlich gen vom 11. September 2011 ein Heimatschutzministerium (United States Department of Homeland Security) gegeben. Beides ist nicht miteinander vergleichbar. Hier geht es um Laptop und Lederhose, um die Bewahrung und Entwicklung der bayerischen Heimat, um gleichwertige attraktive Lebensverhältnisse in einem sich unterschiedlich entwickelnden Raum, insbesondere um den Anschluss ans weltweite Netz. Dort geht es um innere Sicherheit, um Abwehr terroristischer und anderer Gefahren für die Heimat, wofür in Deutschland die Innenminister von Bund und Ländern verantwortlich sind. Ist in Deutschland von Heimatschutz die Rede, ist der Begriff schnell mit rechtsradikaler Fremdenfeindlichkeit, mit Angst vor der sogenannten „Überfremdung“der Heimat durch Flüchtlinge verbunden. Hier wird Heimat als Kampfbegriff missbraucht.
Außenminister Sigmar Gabriel hat seine SPD kurz vor Weihnachten gemahnt, Begriffe wie „Heimat“und „Leitkultur“nicht den Rechten zu überlassen. Es war der nachträgliche Versuch, vermeintliche Wahlkampffehler der Partei im Umgang mit der AfD zu deuten. Die neue Rechte im Bundestag hatte mit dem Slogan „Dein Land. Deine Heimat. Hol sie dir zurück“für sich geworben. Und das bekanntlich nicht ohne Erfolg. Das führte im Herbst dazu, dass auch die Grünen begannen, über Heimat zu reden. Der wohl künftige Parteichef Robert Habeck zum Beispiel sagte: „Politik muss eine Idee formulieren. Eine Heimatidee. Eine Identitätsidee.“Und Katrin Göring-Eckardts Phrase „Wir lieben dieses Land, das ist unsere Heimat, und diese Heimat spaltet man nicht“beantwortete die Grünen-Parteijugend mit scharfer Ablehnung: Heimat sei ein ausgrenzender Begriff.
Zur gleichen Zeit formulierte die CSU für die gesamte Union einen Zehn-Punkte-Plan für eine „bürgerlich-konservative Erneuerung“. Darin heißt es unter anderem: „Die Werte unserer Heimat sorgen für Identität und Zusammenhalt.“Und: Nur wer der eigenen Sache sicher ist, könne anderen offen und tolerant begegnen. Ein klares Bekenntnis zur Heimat.
„Die Sehnsucht nach Heimat – nach Sicherheit, nach Entschleunigung, nach Zusammenhalt und vor allen Dingen Anerkennung –, diese Sehnsucht dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen“, sagte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im vergangenen Jahr zum Tag der Deutschen Einheit. Heimat, so fügte er hinzu, müsse mehr sein als „Wir gegen die“und der „Blödsinn von Blut und Boden“. Es geht also auch schon längst um die Deutungshoheit über den Begriff Heimat.
Und die Heimatkunde von damals? Sie hat dazu beigetragen, stets über die Grenzen hinwegschauen zu wollen und zu sagen: Heimat ist auch dort, wo ich gerade bin.
Wer eine hat, fühlt sich ein Leben lang hingezogen