„Religion allein schafft es nicht“
Von Prediger zu Prediger: Franz Alt ist ein Weggefährte des Dalai Lama. Ein Gespräch der beiden Freunde über Hass, Flucht und Werte
In den USA regiert Präsident Trump nach dem Motto „America first“. Ist dieses Motto in den Zeiten der Globalisierung noch zeitgemäß?
Dalai Lama: Wenn der Präsident sagt „America first“, macht er seine Wähler glücklich. Das kann ich verstehen. Aber aus globaler Sicht ist diese Aussage nicht relevant. Amerikas Zukunft hängt heute auch von Europa ab und Europas Zukunft auch von den asiatischen Ländern. Die neue Realität ist, dass alles mit allem verbunden ist. Die USA sind die führende Nation der freien Welt. Deshalb sollte der US-Präsident mehr nachdenken über das, was für die ganze Welt relevant ist.
Trumps Politik und seine Kriegsrhetorik spalten die USA und die Welt: zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Amerikanern und Ausländern, zwischen Demokraten und Republikanern, zwischen Arm und Reich. Können die Religionen helfen, diese Spaltung zu überwinden?
Dalai Lama: Ja, in einem gewissen Grad. Aber grundsätzlich sollten religiöse und nichtreligiöse Menschen heute zusammenarbeiten. Die Religion allein schafft es nicht, diese Spaltungen zu überwinden. Mein favorisiertes Konzept ist die Herzensbildung und die Herzenserziehung. Ich nenne das „die säkulare Ethik jenseits aller Religionen“. Damit meine ich: Die Einheit der Menschheit und globales Denken über die Zukunft der Welt. Bei der Klimaerhitzung oder bei der globalen Wirtschaft gibt es keine nationalen Grenzen. Auch keine religiösen Grenzen. Jetzt ist die Zeit gekommen, zu verstehen, dass wir Menschheit auf Planeten sind. Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen miteinander leben.
Dalai Lama: Wenn wir voller Hass, Angst und Zweifel sind, bleibt die Tür zu unserem Herzen verschlossen und jeder kommt uns verdächtig vor. Das Traurige ist, dass wir dann den Eindruck bekommen, andere wären genauso misstrauisch uns gegenüber. So wird die Distanz zwischen uns selbst und den anderen immer größer. Diese Spirale fördert Einsamkeit und Frustration. Wenn wir aber friedlich zusammenleben, arbeiten sogar unsere Körperzellen besser. Ein aggressives Gemüt bringt auch unseren Körper ins Ungleich- gewicht. In Unfrieden mit sich und anderen leben, ist nicht intelligent und nicht gesund.
Auch in Europa spielt der Neo-Nationalismus eine immer größere Rolle. Warum verlieren Religionen in westlichen Ländern an Bedeutung?
Dalai Lama: Neo-Nationalismus ist ein ernstes Problem in vielen Nationen. Es ist zunächst einmal logisch, dass die vielen Nationen sich um ihre eigenen Belange kümmern. Die Europäische Union ist ein gutes Beispiel für gelungene internationale Zusammenarbeit. Nach Jahrhunderten der Kriege und des gegenseitigen Abschlachtens hat in den letzten 60 Jahren kein einziges Land der Europäischen Union gegen ein anderes Krieg geführt. Die Geschichte lehrt uns: Wenn Menschen nur ihre nationalen Interessen verfolgen, gibt es Streit und Krieg. Das ist kurzsichtig und engstirnig. Das ist überholt. Die Zukunft einzelner Nationen hängt immer auch von den Nachbarn ab – davon, dass es auch ihnen gut geht. Die USA hängen von Europa ab, Europa von Asien und Afrika und umgekehrt. Das ist heute anders als in der Vergangenheit. Die einzelnen Nationen müssen sich auch um ihre Nachbarn kümmern. Das ist die neue Realität unserer Zeit.
Sie verkünden hier ein Anti-TrumpProgramm. Was können die reichen Länder tun, um die Flüchtlingskrise zu bewältigen? Sie sind ja einer der ältesten Flüchtlinge der Welt …
Dalai Lama: Die Politik muss Mitgefühl für Menschen in Not zeigen. Migranten dürfen nicht diskriminiert werden. Ein paar tausend Flüchtlinge jedes Jahr sind kein Problem für die reichen Länder. Deutschland hat in den letzten zwei Jahren sogar über eine Million Flüchtlinge aufgenommen, was ich sehr begrüße. Aber eine Million geht nicht jedes Jahr. Die reichen Länder haben die moralische Pflicht, Flüchtlingen zu helfen, ihnen Unterkunft, Nahrung und Bildung anzubieten. Aber auf lange Sicht sollten die Flüchtlinge wieder zurückkehren und ihre Heimat aufbauen. Die junge Flüchtlingsgeneration kann in den Industrieländern Berufe und neue Technologien lernen. So können die USA oder Deutschland ganz konkrete Entwicklungshilfe leisten. Nehmen Sie die 100 000 tibetischen Flüchtlinge, die mit mir nach Indien geflohen sind. Die Mehrheit von ihnen will gar nicht dauerhaft außerhalb Tibets leben. Niemand verlässt freiwillig für immer seine Heimat.
Vor kurzem sagten Sie: „Meine Hoffnung und mein Wunsch ist, dass sich die Schulbildung eines Tages dem widmet, was ich die Erziehung des Herzens nenne.“Was ist die „Erziehung des Herzens“?
Dalai Lama: In ein paar Worten: Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Vergebung, Achtsamkeit, Toleranz und Frieden. Diese Erziehung ist nötig vom Kindergarten bis zu den weiterführenden Schulen und Universitäten. Ich spreche von sozialem, emotionalem und ethischem Lernen. Wir brauchen heute eine weltweite Initiative, zur Erziehung der Herzen und Köpfe. An der Universität von Atlanta in den USA haben wir so ein Programm ins Leben gerufen, mit sehr guten Ergebnissen: Die Studenten sind weniger gestresst und weniger gewalttätig, sie haben dank Meditationsübungen eine höhere Konzentrationsfähigkeit und sind leistungsfähiger.
Diese Werte verlieren aber offenbar an Bedeutung. Wie kann man dem gegensteuern?
Dalai Lama: Wir benötigen eine globale Ethik, die sowohl gläubige wie nichtgläubige Menschen, also auch Atheisten, akzeptieren können. Ganz aktuell sieht man das in Burma, wo die buddhistische Mehrheit Gewalt gegen die muslimische Minderheit verübt. Dahinter steckt ein Mangel an inneren Werten. Deshalb haben die Religionen an Überzeugungskraft verloren. Intoleranz ist immer der falsche Weg. Intoleranz führt zu Hass und Spaltung. Schon unsere Kinder sollten mit der Idee aufwachsen, dass für Konflikte Dialog und nicht Gewalt der beste und praktikabelste Weg zur Lösung ist. Die jungen Generationen haben die große Verantwortung, sicherzustellen, dass die Welt ein friedvollerer Ort für alle wird. Das kann aber nur Wirklichkeit werden, wenn unser Bildungssystem nicht nur das Gehirn ausbildet, sondern auch das Herz. Der eigentliche Sinn unseres Lebens, den wir alle verfolgen, ob mit oder ohne Religion, ist es, glücklich zu sein.