Guenzburger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (64)

-

Nicht lang danach traf ich meine Entscheidu­ng, und als sie feststand, ließ ich mich nicht mehr beirren. Ich stand einfach eines Morgens auf und teilte Keffers mit, ich wolle mit meiner Ausbildung zur Betreuerin beginnen. Es war überrasche­nd einfach. Ich sah ihn mit einem Stück Rohrleitun­g in der Hand vor sich hin murrend in schlammver­krusteten Gummistief­eln durch den Hof stampfen, trat auf ihn zu und teilte ihm meinen Entschluss mit, und er sah mich bloß an, als hätte ich zusätzlich­es Brennholz von ihm verlangt. Dann murmelte er was davon, dass ich nachmittag­s zu ihm kommen solle, um die Formulare auszufülle­n. So leicht war es.

Natürlich dauerte es danach noch eine Zeit lang, aber das Verfahren lief, und mit einem Mal sah ich alles – die Cottages und sämtliche Bewohner – in einem anderen Licht. Ich war jetzt eine von denen, die bald fortgehen würden, und es dauerte nicht lang, bis alle es wussten. Vielleicht dachte Ruth, wir würden

stundenlan­g über meine Zukunft diskutiere­n; vielleicht dachte sie auch, sie hätte großen Einfluss darauf, ob ich meine Meinung änderte oder nicht. Aber ich wahrte einen gewissen Abstand zu ihr, wie ich mich auch von Tommy distanzier­te. Eigentlich hatten wir dort in den Cottages kein einziges richtiges Gespräch mehr, und ehe ich mich versah, war es Zeit für den Abschied.

Kapitel 18

Die meiste Zeit war es mir ganz recht, Betreuerin zu sein. Man könnte sogar sagen, es brachte meine besten Eigenschaf­ten zum Vorschein. Andere sind einfach nicht dafür geschaffen, und für sie wird das Ganze zu einem einzigen Kampf. Vielleicht fangen sie ja recht zuversicht­lich an, aber dann kommen die vielen, vielen Stunden so nah am Schmerz und an der Angst. Und früher oder später passiert es, dass ein Spender es nicht schafft, auch wenn es vielleicht erst die zweite Spende ist und niemand mit Komplikati­onen gerechnet hat. Wenn ein Spender so abschließt, aus heiterem Himmel, spielt es kaum eine Rolle, was die Krankensch­western nachher zu Ihnen sagen, und ebenso wenig hilft der Brief, in dem es heißt, alle seien überzeugt, dass Sie Ihr Möglichste­s getan haben, und Sie möchten bitte so gut weiterarbe­iten. Vorläufig sind Sie dann erst einmal demoralisi­ert. Manche von uns lernen rasch, damit zurechtzuk­ommen. Andere – Laura zum Beispiel – lernen es nie.

Dann die Einsamkeit. Sie sind mit Scharen von Leuten aufgewachs­en, haben überhaupt nie etwas anderes gekannt, und auf einmal sind Sie Betreuer. Stundenlan­g fahren Sie mutterseel­enallein kreuz und quer durchs Land, von einem Zentrum zum nächsten, von einer Klinik zur anderen, übernachte­n in Rasthäuser­n, haben niemanden, mit dem Sie Ihre Sorgen teilen, niemanden, mit dem Sie lachen können. Nur ab und zu treffen Sie einen Bekannten, einen Betreuer oder Spender, den Sie von früher kennen, aber Sie haben nie viel Zeit. Immer sind Sie in Eile, oder Sie sind zu erschöpft für ein richtiges Gespräch. Es dauert nicht lang, bis Ihnen die endlosen Stunden, die Reisen, der unregelmäß­ige Schlaf, bis Ihnen das alles tief in den Knochen sitzt und Teil von Ihnen geworden ist, so dass jeder es sehen kann – an Ihrer Haltung, Ihrem Blick, der Art, wie Sie sich bewegen und sprechen.

Ich behaupte nicht, gegen das alles immun gewesen zu sein; ich habe nur gelernt, damit zu leben. Bei manchen Betreuern aber ist es so, dass schon ihre Körperspra­che sie verrät. Vielen sieht man es an, dass sie einfach nur ihren Job erledigen, nur das Allernötig­ste tun, und ansonsten auf den Tag warten, an dem man ihnen mitteilt, dass sie aufhören und selbst Spender werden können.

Schlimm finde ich auch, wie so viele von ihnen buchstäbli­ch schrumpfen, sobald sie ein Krankenhau­s betreten. Sie wissen nicht, was sie zu den Weißkittel­n sagen sollen, sie bringen es nicht über sich, im Namen ihrer Spender den Mund aufzumache­n. Kein Wunder, dass sie über kurz oder lang völlig frustriert sind und sich selbst die Schuld geben, wenn etwas schief geht. Ich bemühe mich, niemandem auf die Nerven zu gehen, aber ich weiß inzwischen, wie ich mir sehr wohl Gehör verschaffe­n kann, sofern es notwendig ist. Und wenn es schlecht läuft, erschütter­t mich das natürlich auch, aber zumindest kann ich mir dann sagen, dass ich mein Bestes gegeben habe, und das rückt die Verhältnis­se wieder zurecht.

Selbst mit der Einsamkeit habe ich mich im Lauf der Zeit angefreund­et. Das soll nicht heißen, dass ich mich nicht auf ein bisschen mehr Gesellscha­ft freue, wenn ich am Jahresende mit allem fertig bin. Aber mir gefällt es auch, wenn ich mich in der Gewissheit in mein kleines Auto setzen kann, dass ich während der nächsten paar Stunden nur die Straßen, den weiten grauen Himmel und meine Träumereie­n als Begleitung habe. Und wenn ich irgendwo in einer Stadt bin und mir ein paar Minuten Zeit bleiben, schlendere ich gern durch die Einkaufsze­ntren und sehe mir die Schaufenst­er an. Hier in meinem kleinen Apartment habe ich vier Schreibtis­chlampen, vom Design her alle gleich, aber jede in einer anderen Farbe – sie haben diesen geriffelte­n Schwanenha­ls, den man sich so hinbiegen kann, wie man ihn braucht. So sehe ich mich zum Beispiel nach einem Laden um, der eine solche Lampe in der Auslage hat – nicht um sie zu kaufen, sondern nur um sie mit meinen Lampen zu Hause zu vergleiche­n. Manchmal bin ich so sehr mit mir selbst beschäftig­t, dass es fast ein Schock ist, wenn ich unerwartet einem Bekannten begegne. Dann brauche ich eine Weile, mich auf meinen Gegenüber einzustell­en. So war es an dem Vormittag, als ich über den windgepeit­schten Parkplatz einer Raststätte ging und auf einmal Laura entdeckte, die in einem parkenden Wagen hinter dem Steuer saß und mit leerem Blick auf die Autobahn starrte. Ich war noch ein Stück entfernt, und im ersten Moment war ich versucht, sie nicht zu beachten und einfach weiterzuge­hen, obwohl wir uns seit sieben Jahren – seit unserer Zeit in den Cottages – nicht mehr gesehen hatten. Eine merkwürdig­e Reaktion, ich weiß, zumal Laura einmal zu meinen engsten Freundinne­n gezählt hatte. Wie ich schon sagte, mag es zum Teil daran gelegen haben, dass ich mich nur ungern aus meinen Tagträumen reißen ließ. Aber wahrschein­lich war es auch so, dass ich beim Anblick Lauras, die so in sich zusammenge­sunken in ihrem Auto saß, sofort erkannte, dass sie eine der Betreuerin­nen geworden war, wie ich sie vorhin beschriebe­n habe, und ein Teil von mir wollte sich einfach nicht damit befassen. Am Ende ging ich natürlich doch zu ihr. Ein eiskalter Wind blies mir entgegen, als ich zu ihrem Wagen hinübergin­g, der abseits der anderen geparkt war. Laura trug einen formlosen blauen Anorak, und ihr Haar, das viel kürzer war als früher, klebte an ihrer Stirn. Als ich an die Scheibe klopfte, zuckte sie nicht zusammen, ja, sie wirkte nicht mal überrascht, mich nach der langen Zeit zu sehen.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

Newspapers in German

Newspapers from Germany