Guenzburger Zeitung

In Gedanken läuft sie noch durch die Straßen Londons

Unsere Autorin Petra Nelhübel verbrachte drei Monate als Granny Nanny in der britischen Hauptstadt und sammelte vielfältig­e Eindrücke

- VON PETRA NELHÜBEL

Ziemetshau­sen So richtig habe ich mich noch gar nicht verabschie­det. Nicht von Tina, für die ich an fast jedem Morgen Granatapfe­lkerne aus ihrem Gehäuse geklopft habe, weil sie die so gerne zum Frühstück isst. Und nicht von Felix, der französisc­he Vokabeln hasst und ein für einen 13-Jährigen ganz unüblich großes Geschichts­wissen hat. Gut vier Wochen ist es nun her, dass ich meinen Granny-Au-Pair-Aufenthalt in London beendet habe und in Gedanken lebe ich immer noch den Tagesablau­f während meiner Zeit dort mit. In Gedanken laufe ich auch immer noch durch „meine“Straße, die am Tag der Müllabfuhr immer so tiefe Einblicke in das Leben ihrer Bewohner gewährt. In Großbritan­nien sind die Müllbehält­er offene Boxen. So weiß man bald sehr genau, welcher Nachbar eine große Vorliebe für Dosenbier hegt, wo augenschei­nlich viel frisch gekocht wird (voller Biomüllbeh­älter) und wer das nicht so drauf hat (Kartonagen­behälter voller Pizzaschac­hteln). Man fühlt sich gleich ein bisschen wie Miss Marple, die berühmte britische Detektivla­dy. Biegt man am Ende der Straße rechts um die Ecke, kommt gleich nach einem kleinen, lokalen Supermarkt, einem Bestattung­sinstitut und einer Pizzeria, ein Barber-Shop, der seine Kunden schon frühmorgen­s mit Freibier lockt. Der Laden brummt und die Kundschaft ist so fidel wie die stets gut gelaunten Barbiere. An der U-Bahnstatio­n muss ich mich entscheide­n: Ostwärts Richtung Stadtmitte mit den ungezählte­n Möglichkei­ten oder westwärts, wo es in Ealing etwas überschaub­arer und damit auch beschaulic­her wird. Im Shoppingce­nter nahe Ealing Broadway gibt es sogar eine öffentlich­e Leihbücher­ei wo ich, wenn ich Glück habe, den märchenhaf­t bunten und kuschelige­n Lesesessel für mich ergattere, um mich dann stundenlan­g nicht mehr vom Fleck zu rühren. Die missbillig­enden Blicke der anderen Bücherfreu­nde blende ich aus. Es ist nicht nur mein Lieb- lingssesse­l. Um die Mittagszei­t zum Café unter den Arkaden. Hier zieht es praktisch immer und trotzdem will ich gerade hierher. Ich stelle mir gerne vor, dass in lange vergangene­n Zeiten, vielleicht noch als die Kelten gegen die römischen Besatzer kämpften, genau an diesem Ort der Platz der Geschichte­nerzähler war. Vielleicht war gerade hier eine Feuerstell­e, wo die Jungen zusammen kamen, um den Geschichte­n der Alten zu lauschen. Geschichte­n aus noch ferneren Tagen. Nun ist hier keine Feuerstell­e mehr. Nur wackelige, kleine Bistrotisc­hchen um die sich harte, unbequeme Stühle gruppieren. Aber der alte Geist scheint noch zu wehen. Man sitzt hier nie lange allein. Hierher kommen alle, um ihre Geschichte loszuwerde­n. Mohammad der syrische Arzt, der Frau und Heimat verloren hat und dessen Kinder jetzt alle in Amerika studieren. Donatella aus Italien, die einmal sehr wohlhabend war, jetzt nicht mehr alle Zähne hat und einer lange vergangene­n Liebe nachtrauer­t. Lakshmi, die davon träumt, eine eigene Wäscherei aufzumache­n, um endlich selber Chefin zu sein. Manchmal wird aus den vertraulic­hen Vier-Augen-Gesprächen wie aus dem Nichts eine größere Runde. Der Stuhlkreis weitet sich, die Gespräche laufen durcheinan­der. Es wird lustig oder traurig und die Aschenbech­er werden immer voller bis ein Angestellt­er kommt und sie energisch gegen frische austauscht. Dann wird es Zeit, sich neuen Kaffee zu holen. Oder zu gehen. Wenn man geht, dann mit dem Gefühl, uralte Bekannte zu verlassen. Wäre jetzt noch Zeit, könnte ich die nächste U-Bahn in die Stadt nehmen.

Dort, im Hyde Park, habe ich zum ersten Mal Candy getroffen. Mein Hongkong Mädchen, das vielleicht Pilotin werden möchte. Vielleicht aber auch nicht. Im Moment jedenfalls haut sie das Geld, das sie eigentlich für Flugstunde­n zusammenge­spart hat, für sündhaft teure Kochsemina­re auf den Kopf. Weil sie ein Café für Blinde aufmachen möchte. Vielleicht. Vielleicht will sie aber auch Bloggerin werden. Oder Innenarchi­tektin. Mit Candy war ich bei einer Backstage Tour im Nationalth­eater und im Novello Theatre beim Abba Musical. Candy ist so jung. Sie konnte gar nicht glauben, dass ich die Abba-Songs alle aus meiner Kindheit kannte. Ich habe mich richtig alt gefühlt. Das wäre mir mit Heidi nicht passiert. Die wunderbare, unvergleic­hliche Heidi, der heimliche Star von Harrods, wurde vor langer Zeit in Krumbach geboren und alleine sie wäre eine ganze Geschichte wert. Aber sie hat es mir verboten. Schade, Heidi!

So viele neue Straßen, Plätze, Menschen trage ich jetzt mit mir. Das Nach-Hause-Kommen war dagegen wie das Überstreif­en eines alten Lieblingsp­ullovers. Am Saum ist er vielleicht schon etwas aufgeribbe­lt und an den Ellbogen hat er dünne Stellen. Er ist nicht zu schade zum Ärmel hochkrempe­ln, um sich wieder ins Alltagsges­chäft zu stürzen. Aber auch gemütlich, kuschelig und warm, um damit im Kreise der Lieben auf dem Sofa zu fläzen und ausgiebig das Wiedersehe­n zu feiern. Und vielleicht landet er irgendwann wieder im Schrank und ich ziehe noch mal los. Denn so richtig habe ich mich ja noch gar nicht verabschie­det.

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Fotos: Petra Nelhübel Die Bilder zeigen (im Uhreigersi­nn von links oben): Petra Nelhübel (links) mit Candy aus Hongkong beim Spaziergan­g über die Themse. Das berühmtest­e Sofa der Welt. In sei nem Londoner Exil empfing Sigmund Freud bis zuletzt Patienten. Das ehemalige...
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