Die Konsequenzen können tödlich sein
In vier Fällen aus der Region zeigen wir, was passieren kann, wenn sich Ärzte irren, falsch diagnostizieren und therapieren. Zum Teil mit Folgen, die nicht mehr gutzumachen sind
München Arzt zu sein ist ein äußerst verantwortungsvoller Beruf. Mediziner müssen besonders genau und besonnen arbeiten, was sie sicher zuallermeist tun. Aber auch Ärzte treffen manchmal falsche Entscheidungen. Das kann dann erhebliche Auswirkungen auf die betreffenden Patienten haben. Die AOK Bayern hat in der Zeit von 2013 bis 2016 in Bayerisch-Schwaben 264 Behandlungen registriert, die nachweislich falsch waren – wie etwa Gutachter und Gerichte im Nachgang festgestellt haben. Und diese Zahl bezieht sich nur auf AOK-Patienten in der Region, die aber immerhin etwa 40 Prozent der Menschen ausmachen. 264 Behandlungsfälle, von denen jeder aber ein Einzelschicksal darstellt. Die AOK hat vier Fälle von betroffenen Patienten aus der Region für uns skizziert (die Nennung der jeweiligen Region bedeutet lediglich, dass der Patient aus dieser stammt. Nicht aber, wo er behandelt wurde).
● Vor etwas über zwei Jahren wurde bei einem noch nicht geborenen Buben aus der Region Kempten eine organische Störung des Harntransportes festgestellt und nach der Geburt – völlig fachgerecht, wie es hieß – mit einer Harnleiterableitung versorgt. Gemäß des Standes der Medizin sollte im Alter von einem Jahr dann ein Harnleiter neu eingepflanzt werden. Dazu muss zuvor mittels Einführung eines Katheters eine Kontrastmitteldarstellung des Harntraktes vorgenommen werden. Dann passierten nach Auskunft der AOK Bayern in der Klinik aber grobe Behandlungsfehler. Die Eltern Kindes wurden nicht über diese Behandlung informiert. Es lag also auch keine Einwilligung der Eltern vor. Dem Buben wurde dann mit „massiver Gewalt“der Katheter eingeführt, wie Gutachter herausfanden. Das Kind erlitt schwere Blutungen und einen Kreislaufschock. Und zu allem Überfluss hatte das Personal dieses Vorgehen auch nicht dokumentiert. Es flog trotzdem auf. Die Neueinpflanzung eines Harnleiters musste verschoben werden. Der Vater des Kindes geht inzwischen rechtlich gegen die betreffende Klinik vor. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen.
● In einem anderen Fall läuft ebenfalls noch ein Verfahren vor Gericht. Der Chefarzt einer Klinik hatte einem 47-Jährigen aus der Region Kaufbeuren die Gallenblase entfernt. Dabei schnitt er laut AOK Bayern den Gallengang von der Gallenblase ab, legte diesen übergangsweise in Kochsalzlösung und setzte den Gallengang später wieder beim Patienten ein. Zunächst ging es diesem gut, doch nach wenigen Tagen klagte der Mann über wahnsinnige Schmerzen und wies Zeichen einer Sepsis (umgangssprachlich „Blutvergiftung“) auf. Der 47-Jährige musste auf die Intensivstation und in den folgenden vier Monaten wegen der entstehenden Komplikationen mehrfach nachoperiert werden. Der Gutachter warf dem Chefarzt vor, mit dem Patienten quasi „experimentelle Chirurgie“betrieben zu haben. Der Patient als Versuchskaninchen? Das Wiedereinsetzen des betreffenden Gewebes in einem solchen Falle widerspreche jedenfalls „jeglichem fachärztlichen Standard“. Der AOK wurde eine Summe in Höhe von 270 000 Euro zugesprochen. Dem Patienten selbst war 100000 Euro Schmerzensgeld angeboten worden. Doch das lehnte die- ser ab. Der Fall wird nach Angaben der AOK Bayern nach wie vor vor dem Landgericht Kempten weiterverhandelt. Zur Erklärung: Nach einem Behandlungsfehler wird oft zweifach geklagt: Von der Patientenseite, weil sie etwa Schmerzensgeld haben will. Und von der Krankenkasse, weil sie eine medizinische Leistung bezahlt hat, die sich aber als fehlerhaft herausstellt und deren Fehler auch noch Folgekosten aufwerfen, die zunächst von der Kasse getragen werden. Dafür will diese entschädigt werden.
● Manchmal sind Behandlungsfehler so folgenreich, dass sie sogar tödliche Folgen haben. Im März 2012 war bei einem AOK-Versicherten aus dem Raum Memmingen, er war zu diesem Zeitpunkt Ende 40, eine schwere Herzschwäche festgestellt worden. Etwas über ein Jahr später entschloss man sich, dem Mann aus Sicherheitsgründen einen Defibrillator einzusetzen. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war schon im Röntgenbild, das man zur Kontrolle angefertigt hatte, zu sehen gewesen, dass das „Stromkabel“des Defibrillators eine Schleife gebildet hatte. Rein fachlich hätte diese Schlinge sofort beseitigt werden müssen. Die Kabelspitze lag zudem an der falschen Stelle. Doch es wurde nichts geändert, der Patient stattdessen entlassen.
Zwölf Tage später kam er wieder in die Klinik. Er litt an einem hochfiebrigen Infekt und einer akuten Bronchitis. Im Krankenhaus wurde er mit Antibiotika behandelt und nach weiteren zwölf Tagen erneut entlassen – wie sich später herausstellte, ohne dass dem Mann die Blutwerte kontrolliert wurden. Weitere fünf Tage später kam es dann zur Katastrophe: Der Mann erlitt einen Herz-Kreislauf-Stillstand aufgrund von Kammerflimdes mern des Herzens. Der Mann konnte zwar von einem medizinischen Laien reanimiert werden. Der Patient fiel aber in ein Wachkoma, das etwa drei Jahre dauerte. Er wurde so zu einem schweren Pflegefall, musste in der höchsten Pflegestufe voll versorgt werden. Im Juni 2016 starb der Mann dann – im Alter von 53 Jahren. Laut Gutachter lagen mehrere Behandlungsfehler vor: Die Sondenschlinge war zwar intraoperativ erkannt, aber nicht beseitigt worden. Zudem wurde die falsche Lage des Kabels nicht erkannt. Die AOK prozessierte gegen die betreffende Klinik und verglich sich mit 850000 Euro. Angehörige des Betreffenden hatten laut AOK wohl aber nicht gegen die Klinik geklagt. Offenbar lag kein Vertrag mit einer Rechtsschutzversicherung vor, die die meist entstehenden hohen Kosten für einen solchen Rechtsstreit übernommen hätte.
● Der letzte hier beschriebene Fall führt zu einem heute 16-jährigen Mädchen, das aus der Region Donauwörth stammt. Es war im Jahr 2001 zur Welt gekommen – etwas zu früh. Das Mädchen wog nur 2340 Gramm. Aber auch sonst hatte es erhebliche Probleme: einen zu niedrigen Blutzucker, einen zu schnellen Atem, die Körpertemperatur und die Sauerstoffsättigung des Blutes waren zu niedrig. Gemäß der damals gültigen Leitlinien hätte das Mädchen sofort in eine Fachklinik verlegt werden müssen. Doch es passierte nichts. Dem Kind wurde stattdessen eine viel zu hohe Zuckerdosis per Infusion verabreicht. Eigentlich hätten 200 Milligramm Zucker pro Kilogramm Körpergewicht gegeben werden müssen. Stattdessen erhielt das Mädchen aber zehn Gramm. Eine mehr als 20-fach zu hohe Dosis. Wenig später kam ein Kinderarzt, bestätigte alle bereits angeführten Diagnosen, aber es passierte wieder nichts. Erst nach 44 Stunden wurde das Mädchen, weil sich die Symptome nicht besserten, in eine Fachklinik verlegt. Doch da war es schon zu spät. Die Folgen der Sauerstoffunterversorgung nach der Geburt führten zu schweren Schäden. Das Kind ist heute schwerst pflegebedürftig. Erst
Jahre später kam es zu einer rechtlichen Auseinandersetzung, die sich wiederum über Jahre hinzog. Eine „Gutachterschlacht“, wie es in Fachkreisen heißt, entstand. Insgesamt elf Expertisen wurden angefertigt. Zwei Behandlungsfehler lagen schlussendlich vor: eine völlig falsche Behandlung des Unterzuckers mit einer viel zu hohen Dosis Glucose. Zudem die viel zu späte Verlegung des Kindes. Es hätte laut Gutachter allerspätestens im Alter von zwei Stunden in eine Fachklinik gebracht werden müssen. Ob das geholfen hätte, weiß man nicht. Aber die Klinik stand in der Pflicht, dies tun zu müssen. In einem ersten Wurf hatte der Richter der AOK 100000 Euro für einen Vergleich angeboten. Das lehnte die Krankenkasse aber ab und prozessierte weiter.
Im Jahr 2016 schließlich wurde der AOK 1,2 Millionen Euro zugesprochen. Die Mutter des Kindes hingegen gab – zermürbt von den jahrelangen Querelen um ihr Kind – im Jahr 2011 auf. Und ließ sich auf einen Vergleich in Höhe von 115 000 Euro ein. Menschlich sei das ja völlig nachvollziehbar, sagte ein zuständiger AOK-Mitarbeiter. Aber angesichts des Leids und der lebenslangen Pflege des Mädchens sei das eine „unglaublich niedrige Summe“.