Armutsrisiko von Familien erhöht sich mit jedem Kind
Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt, dass es Alleinerziehenden in Deutschland deutlich schlechter geht als bisher angenommen. Welche Gründe für diese Neubewertung verantwortlich sind
Augsburg Alleinerziehende sind weitaus stärker von Armut bedroht als bislang angenommen. Das ist das zentrale Ergebnis einer aktuellen Studie im Auftrag der BertelsmannStiftung. Die Zahl der von Armut bedrohten Familien sei um bis zu einem Drittel höher als bislang angenommen, erklären die Forscher der Ruhr-Universität Bochum. Doch weshalb steigt das Risiko arm zu werden so drastisch?
Als arm gilt in den meisten Studien, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens im Land zur Verfügung hat. Dass der Anteil der von Armut bedrohten Menschen der neuen Studie nach steigt, hat einen Grund. Die Forscher setzen bei ihrer Studie auf eine neue Berechnungsart. Dadurch kommen sie zu überraschenden Ergebnissen: 2015 war jedes sechste Paar mit zwei Kindern armutsgefährdet. Bei drei Kindern ist jedes fünfte Paar gefährdet. Besonders von Armut bedroht sind der Studie nach Alleinerziehende. 68 Prozent von ihnen sind demnach in großen finanziellen Nöten – bislang sind Forscher dabei von lediglich 46 Prozent ausgegangen. Aus Sicht der Bertelsmann-Autoren liegt das daran, dass die Lage von Haushalten mit wenig Geld systematisch zu positiv dargestellt wurde. Um das Armutsrisiko zu berechnen, müssen die Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe miteinander vergleichbar gemacht werden. Das Haushaltseinkommen kann dabei nicht einfach durch die Zahl der zusammenlebenden Personen geteilt werden. Denn ein Haushalt mit vielen Personen hat nicht proportional zur Anzahl der Personen steigende Lebenshaltungskosten.
Ein Beispiel: Ein normalverdienender Alleinerziehender benötigt eine Waschmaschine. Eine Familie mit vier Kindern braucht aber keine sechs Waschmaschinen. Ein Gerät reicht in der Regel für den SechsPersonen-Haushalt. Die Familie hat also Einsparungen, weil sie sich eine Waschmaschine teilen kann. Dennoch würde die Familie natürlich nicht mit dem normalen Einkommen des Alleinerziehenden zurechtkommen. Die Autoren der Bertelsmann-Stiftung kritisieren, dass in bisherigen Studien dieser Umstand nicht berücksichtigt wurde.
Der ehemalige Caritas-Chef und Armutsforscher Georg Cremer begrüßt die neue Studie. Er sagt: „Die aktuellen Zahlen sind die ehrlicheren Zahlen.“Bisher sei der faktische Bedarf von Familien mit wenig Einkommen besonders unterschätzt worden. Es sei sehr gut belegt, dass kinderreiche Familien und Alleinerziehende stärker von Armut bedroht sind als Paare ohne Kinder.
Bisher wurden für Statistiken zum Armutsrisiko meist die Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zurate gezogen. Doch die Zahlen dieser Studien sind nach Ansicht der Forscher der Ruhr-Universität falsch. Was aber bedeutet es in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt, arm zu sein?
Die Rechnung mit den 60 Prozent vom durchschnittlichen Einkommen sei richtig, meint Cremer. Armut müsse man in einem reichen Land in Relation zum Wohlstand setzen: „In Deutschland kann Armut bedeuten, sich keine Waschmaschine leisten zu können oder nicht in den Urlaub zu fahren“. Er fordert eine Reihe von Maßnahmen, um Armut zu bekämpfen. Notwendig sei nicht nur eine Erhöhung des Kindergelds, sondern auch ein Ausbau im Angebot der Jugendhilfe und der Kinderbetreuung.