Die Wiedergeburt des weißen Tigers
Siegfried und Roy, die alten Zauberer, würden bestimmt Augen machen. So viele weiße Tiger auf einem Haufen, das fänden die Meister der Magie sicherlich tierisch gut. Hier in Südkorea, wo die edlen Wildkatzen in grauer Vorzeit noch durch grüne Wälder streiften und irgendwann keine Lust mehr hatten, nur zwischen Hochhäusern hindurch zu streunen, erlebt der weiße Tiger seine Wiedergeburt. Egal, ob unten in Gangneung am Pazifik oder oben in den Bergen von Pyeongchang, überall tigert dieses kleine possierliche Tierchen umher. Selbst an der Autobahn winkt er einem entgegen und drückt damit unmissverständlich aus: Vor mir muss keiner Angst haben. Ich bin ein Schmusekätzchen und kein Raubtier mehr.
Beste Voraussetzungen also, um die Herzen der Menschen zu erreichen und die verstaubte koreanische Mythologie hinter sich zu lassen, wonach der weiße Tiger die Menschen vor Bösem bewahren und sie beschützen soll. „Soohorang“hat als plüschgewordenes Maskottchen also den kometenhaften Aufstieg geschafft, vom spirituellen Ladenhüter zum Verkaufsschlager von Pyeongchang 2018. 300 weiße Tiger soll es weltweit noch geben, gehalten in Käfigen. Hier in Korea werden sie befreit. Allein aus den tiefen Regalen im Olympic Mega Store, einem Fanshop für Besucher der Spiele, verschwinden in einer halben Stunde 300 solcher weißer Tiger. Und der Chinese liefert in riesigen Containerschiffen tagtäglich Nachschub übers Gelbe Meer – in allen Größen, in allen Varianten: mal nackt, mal auf Ski, mal mit einem Eishockey-Schläger oder gedruckt auf Kopfkissen und Handtüchern, in Schneekugeln oder auf Seifenspendern.
Soohorang lauert an jeder Ecke. Er greift die Kauflust der Touristen an, er reißt ihnen das Geld aus der Tasche, er krallt sich fest und lässt nicht mehr los, eher der Krimskrams im Einkaufskorb landet.
Das Beutetier wird noch sechs Tage lang gejagt. Von OlympiaFans, aber vor allem von den Athleten. Denn statt Blumen, wie bisher üblich, gibt es zur vorgezogenen Siegerehrung im Stadion nur das kleine Plüschtierchen für die Top 3. Beim deutschen Eiskunstlauf-Floh Aljona Savchenko mag das von den Proportionen her ja noch einigermaßen passen, nicht aber bei Baumfäller-Typen wie Aksel Lund Svindal. Als der kraftstrotzende Abfahrts-Olympiasieger aus Norwegen mit seinen Pranken das weiche gestreifte Stofftierchen in den Himmel reckte, hätten sicher auch Siegfried und Roy am liebsten geweint.