Vom Gefängnis über Berlin in die Flitterwochen
Wie die Freilassung von Journalist Deniz Yücel genau ablief und was bis zu seinem Abflug noch alles passierte
Istanbul/Berlin Der Freilassung des
Deniz Yücel aus türkischer Haft gingen langwierige Verhandlungen voraus. Das wurde vielfach berichtet. Was sich rund um den Tag der Haftentlassung in Silivri – wo das Hochsicherheitsgefängnis liegt – und in Istanbul abspielte, ist wenig bekannt. Eine Rekonstruktion:
Generalkonsul Georg Birgelen ist am 9. Februar in den Urlaub geflogen, mit seiner Ehefrau fährt er Ski in Lech am Arlberg. Kein deutscher Diplomat ist so eng befasst mit dem Fall Yücel, Birgelen hat den Journalisten acht Mal in Silivri besucht. Der nächste Besuch ist schon genehmigt: für den 20. Februar.
Doch am vergangenen Mittwoch schreibt das Büro von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel Birgelen im Urlaub an: Es gebe Bewegung im Fall Yücel, er solle sich auf dem schnellsten Weg nach Istanbul begeben. Birgelen fährt über Nacht mit dem Auto nach Berlin. Dort soll er am Donnerstagmorgen eine Sondermaschine besteigen, die die für den Fall von Yücels Freilassung gechartert hat. Die neunsitzige Cessna Citation gehört der Firma Aerowest aus Langenhagen bei Hannover.
Der Abflug verzögert sich, man wartet auf Bewegung bei Gericht in Istanbul. Birgelen steigt in ein Linienflugzeug, um schneller in Istanbul zu sein. Dort fährt der übernächtigte Diplomat direkt nach Silivri. An diesem Tag ist der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim bei Kanzlerin Angela Merkel in Berlin. Bereits am Mittwoch erklärt er in einem überraschend zu Yücel: „Ich hoffe, dass er in kurzer Zeit freigelassen wird. Ich bin der Meinung, dass es in kurzer Zeit eine Entwicklung geben wird.“Auch Gabriel äußert sich zuversichtlich. Tatsächlich tut sich was.
Vor dem Generalkonsul haben bereits sein Stellvertreter, Yücels Ehefrau und der Anwalt des Journalisten mit dem Noch-Gefangenen gesprochen. Yücel ist als jemand bekannt, der seinen eigenen Kopf hat. „Wenn ich hier einmal raus bin, lasse ich mir nicht vorschreiben, welche Schritte ich zu machen habe“, wird er zitiert. Die offenkundige Gefahr, sollte er in der Türkei bleiben: Er könnte erneut festgenommen werden, wie es in anderen Fällen bereits vorgekommen ist. Am späten Freitagvormittag ordnet das 32. Istanbuler Strafgericht an, Yücel freizulassen. Es hat zuvor die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft angenommen, es wird also zu einem Verfahren kommen.
Das Gericht, so sagen Insider, habe argumentiert, die bei dem Verfahren zu erwartende Haftstrafe könnte mit der U-Haft abgegolten sein. Die türkische Seite wird danach betonen, die Freilassung sei nach rein rechtsstaatlichen Maßstäben erfolgt, ohne politische Einflussnahme. Um 11.30 Uhr bestätigt das Auswärtige Amt, dass Yücel freigelassen werden soll. Kurze Zeit später sagt Gabriel in München, dass er nach seinem Informationsstand dann auch ausreisen darf. In der Kantine in Silivri wartet unterdessen die Delegation, die Yücel abholen will, nervös auf dessen Haftentlassung. Wenige Stunden nach dem Gerichtsbeschluss ist Yücel frei. Sein Anwalt Veysel Ok twittert ein Foto, auf dem der Journalist seine Ehefrau Dilek Mayatürk-Yücel umarmt.
Yücel hat seiner Ausreise mit seiner Ehefrau und seinen Freunden zugestimmt. Er will aber erst noch kurz in seine Wohnung im Istanbuler Stadtteil Besiktas. Die Eskorte aus türkischen Zivilpolizisten, die den gepanzerten Dienstwagen Birgelens begleitet, ist einverstanden. Der rund 90 Kilometer lange Weg führt vorbei am Atatürk-Flughafen, wo schon das gecharterte Flugzeug wartet. Vor dem Haus bekommen Fotografen Yücel und seine Frau vor die Linse.
In der Wohnung kocht Dilek Kaffee für die Anwesenden, die euphorisch sind: Nach 367 Tagen hinter Gittern ist Yücel frei! Yücel telefoniert mit seinem kranken Vater im hessischen Flörsheim. Der Journalist zeichnet in der Wohnung außerdem eine Videobotschaft auf, in der er sagt, noch am 13. Februar sei bei einem Haftprüfungstermin entschieden worden, er müsse im Gefängnis bleiben.
Generalkonsul Birgelen wird inzwischen immer unruhiger. Vereinbart ist ein Abflug noch am Freitag. Die Piloten der Chartermaschine müssen Ruhezeiten einhalten, sie müssen also bald abfliegen. Der Diplomat drängt zum Aufbruch. Die Katze wird eingepackt. Um 19.30 Uhr soll Yücel am Flughafen sein. Um 18.50 Uhr setzt sich der Konvoi in Bewegung. Noch auf der Fahrt wird diskutiert, wohin es gehen soll. Deniz und Dilek haben im Gefängnis geheiratet, sie wollen mit nahestehenden Menschen die Flitterwochen nachholen – außerhalb Deutschlands, wo Yücel nicht unerkannt auf die Straße gehen könnte. Die türkische Seite geht aber davon aus, dass Yücel nach der Ausreise erst nach Deutschland fliegt.
Man entscheidet sich für einen Zwischenstopp in Berlin. Dort kann der Diplomat aussteigen, den das Auswärtige Amt nach Istanbul entsandt hat. Ihn erwartet das Blitzlichtgewitter der vielen Kameras, die am militärischen Teil Tegels auf Yücel warten. Yücel, seine Ehefrau und die mitreisenden Freunde aber verlassen den Flughafen nicht, steigen direkt in ein anderes Flugzeug um – und reisen nach Süden in die Sonne. Am Samstag twittert Yücel ein Foto: „Ich bin nicht in Deutschland. Aber ich bin unter Freunden.“