Nachbarschaftsstreit eskaliert auf der Straße
Warum Mann vom Vorwurf der Beleidigung, Nötigung und gefährlichen Körperverletzung freigesprochen wird
Günzburg Die Anklage war heftig: Ein heute 30-Jähriger soll mit seinem Auto einen Motorroller fahrenden Nachbarn auf offener Straße ausgebremst und ihn geschlagen haben. Der zeigte seinen Kontrahenten, mit dem er seit Jahren im Streit liegt, bei der Polizei an. Für das Günzburger Schöffengericht war der Fall jedoch nicht so eindeutig.
Die gewalttätige Szene hatte sich laut Staatsanwaltschaft im Juli vergangenen Jahres auf der Ortsverbindungsstraße zwischen Edelstetten und Neuburg im südlichen Landkreis Günzburg abgespielt. Der damals 29-jährige Angeklagte soll seinem Kontrahenten zunächst einen „Stinkefinger“gezeigt haben. Nur wenig später sei es dann zum wesentlich gravierenden Zusammentreffen der beiden Männer gekommen. Dort sei der 45-Jährige mit seiner Vespa auf das Auto des Nachbarn aufgelaufen, der ihn mehrfach ausgebremst habe. Als der Rollerfahrer überholen wollte, habe der Mann am Steuer scharf nach links gelenkt, es kam zur Kollision. Damit nicht genug, habe der Autofahrer durch die geöffnete Scheibe nach dem Rollerlenker geschlagen und ihn am Oberarm getroffen. Der meldete den Vorfall sogleich bei der Polizei, der Kontrahent fuhr nach Hause. Ein Verfahren wegen Unfallflucht wurde von der Staatsanwaltschaft nicht verfolgt, als Folge dieser Auseinandersetzung büßte der 30-Jährige seinen Führerschein ein.
In der gestrigen Verhandlung kam es allerdings zur Wende. Nach der Beweisaufnahme rückte selbst die Staatsanwältin vom Anklagevorwurf ab: „Ein strafbares Verhalten ist nicht nachweisbar.“Beide Beteiligten hätten den Sachverhalt komplett gegensätzlich geschildert.
Was war passiert? Zur Beleidigung mit dem „Stinkefinger“ sei es nicht gekommen, sagte der Angeklagte, weil er den Kontrahenten überhaupt nicht in Edelstetten getroffen habe. Beim zweiten Vorfall sei der Gegner mit seinem Roller ganz dicht an ihm vorbeigefahren und am Außenspiegel hängen geblieben. Und geschlagen habe er gleich gar nicht. Zwischen den Nachbarn hat es laut dem 30-Jährigen schon mehrfach Zoff gegeben, unter anderem wegen einer 30 Meter langen Mauer zum Nachbargrundstück. Der Streit dauere schon zwei Jahre und ging bis vors Landgericht.
Der Rollerfahrer beschrieb die Vorfälle als Zeuge hingegen dramatischer. Wegen des abrupten Lenkmanövers des Autofahrers habe er stark abbremsen müssen, um nicht im Straßengraben zu landen: „Ich dachte, der will mich runterfahren“, sagte der Zeuge. Dabei sei er gegen den Außenspiegel gekommen und habe am Knie eine Schürfwunde erlitten. Die Polizei stellte tatsächlich Hautspuren an der Fahrertür des Autos und Kratzspuren am Außenspiegel sicher. Als Folge dieser Attacke befinde er sich in psychologischer Behandlung.
Doch diese Aussagen reichten dem Schöffengericht nicht. Die Vorsitzende Richterin Franziska Braun sprach den Angeklagten von sämtlichen Vorwürfen frei und folgte damit den Anträgen von Staatsanwaltschaft und Verteidigerin Lydia Landsperger aus Ichenhausen. Beide Beteiligten hätten den Sachverhalt unterschiedlich dargestellt. Wie er sich tatsächlich abgespielt habe, blieb laut Richterin ungeklärt.
Wegen des ungerechtfertigten Führerscheinentzugs von mehr als einem halben Jahr erhält der Angeklagte eine Entschädigung. Guntram Marx aus Krumbach, Nebenklage-Anwalt des Rollerfahrers, hielt dagegen und hatte für die Delikte
Anwalt des Nebenklägers ist vom Gericht überrascht
eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung beantragt.
Nach der Verhandlung zeigte sich Marx gegenüber unserer Zeitung erstaunt darüber, dass das Schöffengericht beim Angeklagten weder Einträge aus dem Bundeszentralregister noch die persönlichen Verhältnisse eingeführt hatte, was als Verfahrensfehler durchaus ein Revisionsanlass sein könne. Ob das Urteil die Verhältnisse zwischen den zerstrittenen Nachbarn beeinflusst, steht auf einem anderen Blatt.