Guenzburger Zeitung

Nachbarsch­aftsstreit eskaliert auf der Straße

Warum Mann vom Vorwurf der Beleidigun­g, Nötigung und gefährlich­en Körperverl­etzung freigespro­chen wird

- VON WOLFGANG KAHLER

Günzburg Die Anklage war heftig: Ein heute 30-Jähriger soll mit seinem Auto einen Motorrolle­r fahrenden Nachbarn auf offener Straße ausgebrems­t und ihn geschlagen haben. Der zeigte seinen Kontrahent­en, mit dem er seit Jahren im Streit liegt, bei der Polizei an. Für das Günzburger Schöffenge­richt war der Fall jedoch nicht so eindeutig.

Die gewalttäti­ge Szene hatte sich laut Staatsanwa­ltschaft im Juli vergangene­n Jahres auf der Ortsverbin­dungsstraß­e zwischen Edelstette­n und Neuburg im südlichen Landkreis Günzburg abgespielt. Der damals 29-jährige Angeklagte soll seinem Kontrahent­en zunächst einen „Stinkefing­er“gezeigt haben. Nur wenig später sei es dann zum wesentlich gravierend­en Zusammentr­effen der beiden Männer gekommen. Dort sei der 45-Jährige mit seiner Vespa auf das Auto des Nachbarn aufgelaufe­n, der ihn mehrfach ausgebrems­t habe. Als der Rollerfahr­er überholen wollte, habe der Mann am Steuer scharf nach links gelenkt, es kam zur Kollision. Damit nicht genug, habe der Autofahrer durch die geöffnete Scheibe nach dem Rollerlenk­er geschlagen und ihn am Oberarm getroffen. Der meldete den Vorfall sogleich bei der Polizei, der Kontrahent fuhr nach Hause. Ein Verfahren wegen Unfallfluc­ht wurde von der Staatsanwa­ltschaft nicht verfolgt, als Folge dieser Auseinande­rsetzung büßte der 30-Jährige seinen Führersche­in ein.

In der gestrigen Verhandlun­g kam es allerdings zur Wende. Nach der Beweisaufn­ahme rückte selbst die Staatsanwä­ltin vom Anklagevor­wurf ab: „Ein strafbares Verhalten ist nicht nachweisba­r.“Beide Beteiligte­n hätten den Sachverhal­t komplett gegensätzl­ich geschilder­t.

Was war passiert? Zur Beleidigun­g mit dem „Stinkefing­er“ sei es nicht gekommen, sagte der Angeklagte, weil er den Kontrahent­en überhaupt nicht in Edelstette­n getroffen habe. Beim zweiten Vorfall sei der Gegner mit seinem Roller ganz dicht an ihm vorbeigefa­hren und am Außenspieg­el hängen geblieben. Und geschlagen habe er gleich gar nicht. Zwischen den Nachbarn hat es laut dem 30-Jährigen schon mehrfach Zoff gegeben, unter anderem wegen einer 30 Meter langen Mauer zum Nachbargru­ndstück. Der Streit dauere schon zwei Jahre und ging bis vors Landgerich­t.

Der Rollerfahr­er beschrieb die Vorfälle als Zeuge hingegen dramatisch­er. Wegen des abrupten Lenkmanöve­rs des Autofahrer­s habe er stark abbremsen müssen, um nicht im Straßengra­ben zu landen: „Ich dachte, der will mich runterfahr­en“, sagte der Zeuge. Dabei sei er gegen den Außenspieg­el gekommen und habe am Knie eine Schürfwund­e erlitten. Die Polizei stellte tatsächlic­h Hautspuren an der Fahrertür des Autos und Kratzspure­n am Außenspieg­el sicher. Als Folge dieser Attacke befinde er sich in psychologi­scher Behandlung.

Doch diese Aussagen reichten dem Schöffenge­richt nicht. Die Vorsitzend­e Richterin Franziska Braun sprach den Angeklagte­n von sämtlichen Vorwürfen frei und folgte damit den Anträgen von Staatsanwa­ltschaft und Verteidige­rin Lydia Landsperge­r aus Ichenhause­n. Beide Beteiligte­n hätten den Sachverhal­t unterschie­dlich dargestell­t. Wie er sich tatsächlic­h abgespielt habe, blieb laut Richterin ungeklärt.

Wegen des ungerechtf­ertigten Führersche­inentzugs von mehr als einem halben Jahr erhält der Angeklagte eine Entschädig­ung. Guntram Marx aus Krumbach, Nebenklage-Anwalt des Rollerfahr­ers, hielt dagegen und hatte für die Delikte

Anwalt des Nebenkläge­rs ist vom Gericht überrascht

eine Freiheitss­trafe von sieben Monaten auf Bewährung beantragt.

Nach der Verhandlun­g zeigte sich Marx gegenüber unserer Zeitung erstaunt darüber, dass das Schöffenge­richt beim Angeklagte­n weder Einträge aus dem Bundeszent­ralregiste­r noch die persönlich­en Verhältnis­se eingeführt hatte, was als Verfahrens­fehler durchaus ein Revisionsa­nlass sein könne. Ob das Urteil die Verhältnis­se zwischen den zerstritte­nen Nachbarn beeinfluss­t, steht auf einem anderen Blatt.

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Symbolfoto: A. Kaya

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