Tatort London
Gesellschaft In der britischen Hauptstadt wurden seit Anfang des Jahres fast 60 Menschen getötet. So viele wie nie zuvor. Die Mordrate ist inzwischen sogar höher als in New York. Oft waren die Opfer Teenager. Wie die 17-jährige Tanesha Melbourne, die zur falschen Zeit am falschen Ort war
London Nummer 48 war ein äußerst liebenswürdiges Mädchen, werden die Freunde später sagen. Mit ihnen trifft sich Tanesha Melbourne am Abend des Ostermontags in einer Nebenstraße im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham. Ein entspannter Abend war geplant, reden, lachen, chillen, wie es eine Jugendliche nennt.
Dann fallen drei Schüsse, abgefeuert aus einem vorbeifahrenden Auto. Eine Kugel erwischt die 17jährige Tanesha, sie sackt zusammen. Ihre Freunde verständigen die Mutter im nahen Zuhause, die sofort zu ihrer Tochter eilt. Während Rettungskräfte fast eine Stunde lang versuchen, die Jugendliche wiederzubeleben, herrscht Verzweiflung. Um 22.43 Uhr erklären die Sanitäter den Teenager für tot, gestorben in den Armen der Mutter.
Tanesha Melbourne ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie ist das 48. Opfer, das in London seit Beginn dieses Jahres getötet wurde. In Walthamstow, nur wenige Kilometer entfernt, wird in derselben Nacht einem 16-Jährigen ins Gesicht geschossen. Amaan Shakoor starb einen Tag später. Nummer 49.
Mittlerweile sind es beinahe 60 Todesopfer, und erst an diesem Wochenende sind abermals zwei Menschen gewaltsam umgebracht worden. Nachrichten, dass die britische Hauptstadt im Februar und März die einst für ihre brutalen Delikte berüchtigte US-Metropole New York übertroffen hat, sorgen für Empörung. Dabei handelt es sich kaum um ein neues Problem: In den vergangenen drei Jahren ist nach Angaben der Polizei die Zahl der Morde in der britischen Hauptstadt um 40 Prozent gestiegen. Messerstechereien, Schießereien, Schlägereien – wöchentlich bestimmen Attacken die Schlagzeilen der Medien. Auffällig ist, dass immer mehr junge Menschen zu Opfern der Gewalt werden.
Wie Tanesha Melbourne, die offenbar lediglich in einen Streit zwischen zwei Gangs geraten ist. Heute noch bringen Freunde Blumen in jene schmucklose Chalgrove Road in Tottenham, wo sich verwechselbare Reihenhäuser aneinanderdrängen und sich triste Sozialbauten kaum vom grauen Himmel unterscheiden. Sie zünden Kerzen an, halten sich an den Händen, trauern.
„Ein sinnloser Tod“, sagt Jedi. Der Londoner ist so etwas wie ein Aktivist und empfängt in Notting Hill in West-London mit seiner Hündin an seiner Seite und dem Handy am Ohr. Er trägt Dreadlocks und am Arm blitzt eine große goldene Uhr in der Sonne auf. Früher, da führte der Brite, geschätzt Anfang 30, einen ähnlichen Lebensstil wie jene Jugendlichen heute. Kriminalität galt irgendwie als cool, auch wenn Jedi selbst erleben musste, wie Freunde „umsonst“starben. Ein enger Kumpel etwa wollte nur kurz zum Supermarkt und sollte nie wieder heimkehren, weil er in einen Streit geraten war und dabei niedergestochen wurde. Jedi erzählt von solchen Dingen, als gehörten sie zum Alltag eines Teenagers in London. Er zuckt die Schultern. Es war eben so. Heute ist die Situation ja noch schlimmer.
Über private Dinge will der Vater von zwei Kindern nicht reden, sein Alter nicht sagen und auch Jedi soll als Name genügen. Stattdessen möchte er, der der Gewalt abgeschworen hat, viel lieber die Situation auf Londons Straßen ändern. Dafür hat er mit einigen Bekannten bereits vor Monaten die Organisation G.A.N.G gegründet, ein Akronym des Mottos „Guiding A New Generation“– eine neue Generation geleiten, anleiten, führen. Die Gruppe mit ihren rund drei Dutzend Mitgliedern hat sich vorgenommen, die durch Messer und Schusswaffen verursachten Todesfälle zu reduzieren. Das funktioniere allein durch Prävention, sagt Jedi und geht deshalb direkt in die Schulen, redet mit und Vertretern unterschiedlicher Religionen, mit Verantwortlichen lokaler Projekte und Gangmitgliedern oder sich verloren fühlenden Jugendlichen.
„Wir brauchen realistische Lösungen“, sagt Jedi. Die Teenager müssten lernen, Konflikte ohne Messer oder Fäuste zu lösen und sich den Konsequenzen gewalttätiger Attacken bewusst werden. Er wünscht sich zudem, dass mehr Prominente aus der Musik-, Film-, Sport- oder Modeszene, die selbst aus solchen Kreisen stammen, ihren Einfluss nutzen würden. Was ist cool? „Sich um die Familie und Gemeinschaft zu kümmern und ein erfolgreiches langes Leben zu führen, ist gangstermäßig“, sagt Jedi – „und nicht wahllose Gewalttaten zu verüben, im Gefängnis zu sitzen oder so mit einem Messer verletzt zu werden, dass man einen künstlichen Darmausgang braucht.“Das müssten nicht nur Leute wie er, sondern auch prominente Vorbilder vermitteln. „Zu ihnen schauen die Jugendlichen auf.“
Von mehr Polizisten auf Londons Straßen hält er dagegen nichts. Seit Monaten streitet sich die Politik darüber, wer für den Anstieg der Gewalt verantwortlich ist. David Lammy, der Labour-Abgeordnete für Tottenham, zeigt sich „zutiefst besorgt“über die Entwicklung in seiner Gegend, die sich „im EpizenSozialarbeitern trum“dieser wiederfinde. Seiner Meinung nach ist der harte Sparkurs der konservativen Regierung schuld am Anstieg der Gewalt. Unter der damaligen Innenministerin und heutigen Premierministerin Theresa May wurde im Zuge von Budgetkürzungen etwa seit 2010 die Zahl der Polizisten drastisch gesenkt. Waren es in England und Wales im Jahr 2009 noch 144 353 Beamte, kam die Belegschaft im vergangenen September nur noch auf 121 929 – so wenig wie seit 20 Jahren nicht.
Aber gerade die „Bobbies“, wie die Straßenpolizisten in Großbritannien genannt werden, seien in der Lage, innerhalb der Gemeinden wertvolle Informationen zu sammeln, findet Parlamentarier Lammy. Auch dass die Londoner Metropolitan Police etliche Stationen schließen musste und in einigen Problemvierteln dadurch weniger präsent ist, bemängeln Kritiker.
Die Konservativen schimpfen dagegen auf Bürgermeister Sadiq Khan. Der Labour-Politiker sei nicht Herr der Lage und verfolge keinen Plan. Khan hat seine eigene Strategie: Bereits zu Beginn des Jahres verkündete er, den umstrittenen „Stop and Search“-Einsatz erheblich auszuweiten. Doch die Diskussionen, ob die Methode nicht vielmehr die schwarze Minderheit diskriminiere, reißen nicht ab. So ergab 2017 etwa eine offizielle Studie, dass Schwarze mehr als acht Mal häufiger angehalten werden als Weiße. Das spontane Durchsuchen von Passanten sei für die Polizeikräfte „ein entscheidendes Instrument“, verteidigte Khan dennoch den Schritt.
Die Labour-Abgeordnete Sarah Jones, die einer parteiübergreifenden Arbeitsgruppe gegen Messerverbrechen vorsitzt, befürwortet zwar mehr Polizei auf den Straßen, findet die Probleme aber an zahlreichen Stellen. „Der Mangel an öffentlichen Dienstleistungen bei Jugendarbeit, Bildung und psychischer Gesundheit hat ein Vakuum hinterlassen, das gefüllt wird mit einer zunehmenden Macho-Kultur, die Gewalt verherrlicht“, sagt sie. Um diesen Kreis zu durchbrechen, müsste man Gewalt wie eine Epidemie behandeln – „ein öffentliches Gesundheitsproblem“. Es brauche intensive Jugendarbeit. Erst kürzlich hat die Regierung eine Kampagne in Höhe von umgerechnet mehr
Freunde zünden Kerzen an, halten sich an den Händen
Den Jugendlichen fehlen Perspektiven
als 1,5 Millionen Euro initiiert, die anhand echter Geschichten von Opfern von Messerstechereien via sozialer Medien vor Gewalt warnt und aufklären will.
Jedi unterstützt diesen Ansatz. Seiner Meinung nach ist zu einem großen Teil die Politik schuld. Die Armut nehme zu, die Klassenunterschiede würden immer gravierender und zementierter, sodass es an Möglichkeiten für Jugendliche fehle. „Sie sehen keine Perspektive.“Hinzu komme die Wohnungskrise, die insbesondere bedürftige Menschen aus gentrifizierten Gegenden vertreibe. Er zeigt auf eine Straße voller Luxusanwesen.
Der Gegensatz könnte krasser kaum sein: Im West-Londoner Stadtteil Notting Hill teilen sich die Ärmsten der Gesellschaft die Nachbarschaft mit den Reichen und klagen, dass sie seit Jahren von den Entscheidungsträgern vernachlässigt, von Geld und Macht verdrängt würden. In etlichen Gegenden hat die Arbeiterschicht längst aufgegeben – oder aufgeben müssen. „Wenn Menschen von ihrem Zuhause vertrieben werden und junge Leute keine Orte mehr haben, wo sie sich treffen können, wie Gemeindezentren oder Jugendklubs, wenn sie nichts mehr zu tun haben, weil alle Programme aus Spargründen eingestellt werden, dann resultiert das leider oft auch in steigender Kriminalität“, sagt Jedi.
Kürzlich waren er und Kollegen von G.A.N.G in Tottenham und trafen auch Freunde der getöteten Tanesha Melbourne. Welch eine Verschwendung von Leben, sagt er. Immer wieder sagt er das. „Es muss endlich aufhören.“