Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (70)
Und die Finger reckend: „O Kinder, bin ich glücklich!“„Morgen früh um acht!“ruft Maack.
„Alles all right“, schreit Sager. „Guten Abend, die Herren.“„…Oberpiepenknorke…“
7
„Sie werden wohl unsolide, Herr Kufalt?“fragt Liese.
Sie steht auf dem dunklen Vorplatz, es ist zehn Uhr nachts, er ahnt ihr Gesicht mehr, als daß er es sieht. Deutlich aber hört er den Spott in ihrer Stimme.
„Ja“, sagt er kurz und geht in sein Zimmer.
„Sie sind wohl noch böse mit mir?“lacht sie und folgt ihm.
Er tritt ein, knipst das Licht an, legt seine Mappe auf einen Stuhl und zieht das Jackett aus.
„Ich bin müde, Fräulein Behn“, sagt er. „Ich möchte gleich schlafen gehen.“
Er wagt nicht mehr als einen
flüchtigen Blick auf sie, die unter der Tür steht. Sicher hat sie schon im Bett gelegen, sie hat einen Bademantel an, ein helles, fröhliches Ding aus Weiß und Gelb, ihre Beine sind bloß, ihre Füße sind in kleinen, blauen Schuhchen.
„Männer…“, sagt sie, „sind komisch. Sie denken, wenn sie einmal mit einer Frau geschlafen haben, haben sie das Recht auf immer.“Ihm wird heiß. Er spürt es schon wieder, wie eine glühende Wolke von ihr zu ihm. Aber er will nicht – was hat Maack gesagt? ,Und einen Monat keine Mädchen. Einen Monat Bewährungsfrist.‘ Und natürlich: heute kommt sie, am ersten Tag dieses neuen Monats – Quälerin, die!
„Ich denke gar nichts“, sagt er böse. „Ich bin müde, ich habe den ganzen Tag schwer gearbeitet ich will schlafen gehen – allein.“Er besinnt sich, will einhalten, und dann kommt doch wieder die rote Welle über ihn, er sieht sie an: „Außerdem haben Sie nicht mit mir geschlafen, sondern mit Beerboom.“
„Ziehen Sie sich ruhig aus“, sagt sie. „Sie werden sich doch nicht vor mir genieren?!“
„Nein“, sagt er und setzt sich in einen Stuhl am Fenster, so daß er sie nicht sieht.
Ja, Stille. Ja, nichts. Draußen die Gleise glänzen im Licht, die Laternen sind da, bald rot, bald grün, die große Scheibe eines Vorsignals fällt mit einem leichten Klappen um, ein eiliger Zug fährt schlank, in seinen Kuppelungen klappernd, mit erhellten Fenstern vorbei. Ja, es ist Nacht, es ist weiche Sommernacht, da sind die Bäume unten, sie bersten vor Wachsen, alles treibt, wird voller, strömt über, als gäbe es nie Kälte, Verwelken, Ende – gibt es nicht ein Lied: ,Dies ist die Nacht der Liebe…‘?
Nein, nein, nein, nein, sie ist die Böse. Sie ist die Quälerin. Heute so und morgen anders. Und alle Zeit nicht zu halten… Ja, sie hat leise geraschelt, ein- oder zweimal, sicher ist sie weiter ins Zimmer gegangen – hat das sachte zugezogene Türschloß nicht geknackt? Vielleicht steht sie schon hinter ihm, vielleicht streckt sie schon ihre Hand nach seinem Haar aus, seinen Kopf zurückzubiegen zum Kuß, vielleicht kommt sie schon zu ihm – wo bleibt sie?
Diese Nacht, durch die immerzu Züge fahren, ist so still! Es ist, als hielte alles den Atem an, in einer großen Erwartung. Armes, irrendes, schwaches Herz – ein neues Leben? Warum auch war sie in jener Nacht in den Hammer Park gegangen, hatte auf derselben Bank mit ihm gesessen, bei einem andern Mann?
Aber er war nicht zu ihr gegangen! Bei ganz jemand anders hatte er gemietet. Und dann wieder, in überstürzter Hast, bei ganz jemand anders. Und dort war sie gewesen – Zufall? Und entging man diesem Zufall, der so gut Fallen stellte, nie? War alles Wehren umsonst?
Stille, ruhige Zelle, Pensum stricken, Zusatznahrung, ein Topf mit Schmalz, ausgebraten von den Schneidern, zwei Bücher die Woche. Man könnte hinausgehen aus dem Zimmer, auf die Mönckebergstraße zum Beispiel, da ist immer Schupo, man könnte einen Schaukasten einschlagen, irgend etwas herausnehmen, eine Handtasche, einen Photoapparat, man wurde gekitscht, und die gute große Ruhe kam, keine Probleme, keine Sorgen, kein Kampf mehr.
Rief sie nicht eben: ,Komm‘? Nein, er kam nicht. Noch nicht, vielleicht nie.
Das hatten die andern Menschen nicht, davon wußten sie nichts, daß es solch einen Ausweg gab. Sie machten den Gashahn auf, hängten sich in eine Seilschlinge, schluckten Gift und verreckten mit aufgetriebenen Bäuchen, verdrehten Augen, im eigenen Dreck – er ging einfach hin und klaute was, und schon war er in der Ruhe, in der ewigen Geduld, in der Windstille, auf der andern Wetterseite des Lebens.
Maack wußte auch darum, Monte wußte darum, Jänsch, Oeser, Deutschmann, Fasse – jeder von ihnen! Die andern verstanden es nie. Die begriffen nicht, warum Bestrafte so waren, daß die Gefängnisluft sie verändert hatte, etwas war zerfetzt in ihrem Blut, das Gehirn verändert. All das Leben hier draußen war eine Sache auf Widerruf – jede Sekunde konnte man widerrufen.
Man konnte die Liese totschlagen oder auch ihre Mutter, für die andern war so etwas unausdenkbar – aber wieso denn?! Aber warum denn?! – für ihn war es ganz in Ordnung. Er hatte fünf Jahre mit solchen gelebt, mit Zuhältern, Mördern, Dieben – er wußte, sehr gut war so etwas zu machen, es war nicht schwieriger als tausend andere Dinge im Leben, sicher war es leichter als Aufhängen.
Sie waren so komisch, diese Menschen draußen, irgendwie kapierten sie etwas nicht, von dem jeder Bestrafte wußte. Lebensuntüchtig, verkorkst, ein Schädling, Feind der Gesellschaft – nun ja. Nun ja. Hier saß er, Willi Kufalt, um die Dreißig, aber entschlossen wie ein Vierzehnjähriger in der Pubertät, vor jedem Problem Reißaus zu nehmen. War er so gewesen? Nein, so war er geworden, so war er gemacht worden! So hatten sie ihn fertiggemacht! Du spinnst ja, die kommt aus dem Kittchen, die Redensart, im Kittchen hatten sie wohl früher gesponnen. Sie hatten weiter nichts gemacht als Spinnen, eine Arbeit, eine ganz normale Handarbeit, wenn man sie nicht in der Kittchenluft macht, aber dort eben wurde daraus: du spinnst ja. Bei ihm, bei Kufalt, mußte es heißen: du strickst ja. Er hatte fünf Jahre gestrickt. Nun strickte er. Sein Leben lang. Sein – Leben – lang. Hatte sie nicht eben geflüstert: ,Nun komm doch endlich!‘? Ja, schön, er würde kommen, oder er würde auch nicht kommen, aber natürlich würde er kommen. Er tat, was ihm begegnete, was man von ihm erwartete, er würde immer tun, was man von ihm verlangte. Das hatte man ihn gelehrt, das saß fest: ,Geh durch die Tür… Schreib heute Brief…‘ Schönschön. Aber jetzt saß er erst einmal hier, ganz behaglich untergebracht am Fenster. Mochte sie warten, auch er hatte warten müssen, erst fünf Jahre, dann dreieinehalbe oder vier Wochen auf die junge Dame, die ihn in seinem Bett besuchte.