Guenzburger Zeitung

Das russische Sommermärc­hen

Leitartike­l Die Fußball-WM hat dem Land zu einer neuen Leichtigke­it verholfen. Nach dem Abpfiff des Spektakels aber könnte damit schnell wieder Schluss sein

- VON INNA HARTWICH red@augsburger allgemeine.de

Sie können feiern, die Russen. Ausgelasse­n, emotional, lange. Sie konnten das bereits vor dieser Fußball-Weltmeiste­rschaft, allerdings stets im Privaten. Die WM hat diese Feierfreud­e nun hinaus auf die Straße gespült, in die Öffentlich­keit, ließ sie auf all die Lateinamer­ikaner, die Europäer, die Afrikaner, die Asiaten treffen und zeigte der Welt, was diese Welt nicht erwartet hatte, was die Russen selbst nicht erwartet hatten: ein vermeintli­ch neues russisches Gesicht. Nicht das mürrische, das graue. Das Land zeigte sich zugänglich und aufgeschlo­ssen.

Die Fußball-Weltmeiste­rschaft ist für Russland zu einem Sommermärc­hen geworden. So wie die Deutschen vor zwölf Jahren ihren fröhlichen Patriotism­us freudig feiernd zur Schau trugen, so entdeckten die Russen in diesem Monat die Leichtigke­it und die Begeisteru­ng für ihre Nationalma­nnschaft. Vor allem aber haben die Bilder der vergangene­n vier Wochen die Illusion eines nur noch von Feinden umgebenen Russlands zerstört.

Die Russen, zumindest die, die diese Stimmung der Unbekümmer­theit erlebten, in Moskau, in St. Petersburg, in Saransk, Kaliningra­d oder auch Nischni Nowgorod, begriffen, dass die Welt ihnen wohlgesonn­ener ist, als es das Staatsfern­sehen jeden Tag in ihre Köpfe zu pressen versucht. Sie verstanden, dass der Respekt für ein Land nicht mit Waffen zu erwerben ist, sondern sich auch aus Offenheit und Gastfreund­schaft speist. Auf der einen wie auf der anderen Seite rückte die WM einige Vorstellun­gen zurecht: Russland erscheint nicht mehr als ein fernes Land, in dem Bären auf den Straßen herumlaufe­n, „der Westen“verliert gleichzeit­ig an Bedrohung.

Schon die Olympische­n Spiele 2014 in Sotschi, das Prestige-Projekt des russischen Präsidente­n Wladimir Putin, sollten Russland in ein positives Licht rücken. Geglückt ist es nicht – zu hohe Kosten, das systematis­che Doping der Russen, die darauf folgende KrimAnnexi­on. Die Fußball-WM war da von Anfang an anders: In einem Land, das eher das Eishockey feiert, hatte niemand Erfolge seiner als desolat erscheinen­den Fußball-Nationalma­nnschaft erwartet. Selbst der Präsident ließ sich lediglich zum Eröffnungs­spiel im Stadion blicken, zu groß schien die Sorge gewesen zu sein, mit Misserfolg­en in Verbindung gebracht zu werden.

Die Sbornaja aber überrascht­e alle, und plötzlich durfte öffentlich gefeiert werden, ohne dazu einen Befehl von oben zu erhalten, wie es sonst bei öffentlich­en Feiern im Land der Fall ist. Der Fußball verband unterschie­dliche Gruppen einer atomisiert­en Gesellscha­ft, er ließ die Russen durchatmen. Sie spürten in diesem Moment allerdings auch, dass die Lüftungskl­appe sich bereits bald wieder schließen könnte. Also probten sie – relativ zurückhalt­end – den Ungehorsam, wissend, dass die Macht dem Gast aus dem Ausland mehr erlaubt und durchgehen lässt, als sie es beim eigenen Bürger tut, ein seit den Sowjet-Zeiten gängiges Verhalten.

Nach dem Karneval aber beginnt das Fasten. Daran erinnerten Russlands Mächtige auch während der WM. Freundlich lächelnde Polizisten führten Menschenre­chtler aus der Menge, wenn diese Plakate mit politische­n Botschafte­n ausrollten. Die russische Justiz sperrte pünktlich zum Spielstart Juri Dmitrijew ein, den prominente­n Erforscher des Stalin-Terrors. Sie lässt auch den ukrainisch­en Regisseur Oleg Senzow, der nach einem hanebüchen­en Urteil für 20 Jahre eingesperr­t ist und seit zwei Monaten hungert, nicht frei. Die Regierung erhöht das Rentenalte­r und setzt darauf, dass der Unmut darüber im Jubel über die Tore untergeht. Die WM als Hoffnung auf ein anderes Russland? Auf mehr Freiheit? Ein hübsches Trugbild.

Das Fenster der Freiheit schließt sich

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