Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt (91)
Kufalt erzählt es und der Pfarrer hört zu, fragt auch einmal dazwischen, Kufalt merkt, er versteht, wie einem Menschen zumute sein kann.
Schließlich sagt der Pfarrer ganz kurz: „Ich gebe Ihnen ein Schreiben an den Prokuristen einer Lederfabrik. Ich sage nicht, daß das Schreiben Ihnen was nützt. Aber ich gebe es Ihnen.“
Er setzt sich hin und schreibt, einmal sieht er hoch und fragt: „Aber von meiner Konfession sind Sie nicht?“
Kufalt möchte lügen, aber dann sagt er doch leise: „Nein.“
„Gut“, sagt der Pfarrer und schreibt weiter.
„Also gehen Sie gleich“, sagt er dann. „Jetzt wird der Herr zum Essen zu Haus sein.“Er wiegt den Kopf: „Machen Sie sich keine Hoffnung“, sagt er. „Es gibt noch viel schlimmeres Elend. Geld haben Sie noch?“
„Ja“, sagt Kufalt.
„Und Kleidung?“
„Ja“, sagt Kufalt.
„Nun, vielleicht kommen Sie, wenn dies nichts ist, noch einmal wieder. Ich will sehen, ich will sehen …“
Er reicht Kufalt die Hand. Der gibt den Brief in der Wohnung des Prokuristen ab und wartet vor der Tür. Sein Herz klopft ein wenig, ein guter, alter Mann, hat ihm keine Hoffnungen gemacht – aber es kann doch sein?
Das Dienstmädchen kommt zurück, es drückt ihm Geld in die Hand, es sagt: „Es ist nicht nötig, daß Sie wiederkommen.“Dann schließt sie die Tür.
Er steht ziemlich traurig auf dem Treppenabsatz, zählt das Geld, es sind dreißig Pfennig. Er hört das Mädchen in der Küche hantieren, steckt die dreißig Pfennige durch den Briefkastenschlitz und läuft eilig die Treppe hinunter, als die Groschen im Kasten klappern.
Dann zottelt er ziemlich trübselig und mißvergnügt nach Haus. In einem Geschäft in der Königstraße kaufte er sich noch zwei Bücklinge, Brot war zu Haus, Milch war zu Haus, und so war das Alltagsmittagsessen à la Maack komplett. Dann konnte man nach dem Essen schlafen oder nicht schlafen, wie der Kopf es wollte, und dann kam der Lichtpunkt des Abends: der Besuch bei Emil Bruhn. Und vielleicht würde man sogar, wenn Emil Bruhn in seiner Holzwarenfabrik diese Woche gut verdient hatte, auf einen Tanzboden gehen. So phantastische Pläne hegte man. Die Bücklinge mit dem fettigen Pergamentpapier in der Hand, trat Kufalt in seine Stube ein und blieb unter der Tür stehen.
Am Fenster hatte ein schlanker, rötlicher Mann mit einer langen Nase gesessen, in einer Zeitung gelesen, die er jetzt zusammenfaltete.
„Herr Kufalt wahrscheinlich?“sagte der Mann. „Entschuldigen Sie, daß ich es mir bei Ihnen gemütlich gemacht habe. Ihre Wirtin hatte keine Bedenken.“
„O bitte“, sagte Kufalt verwirrt. „Mein Name ist nämlich Dietrich“, sagte der Herr und sah Kufalt freundlich mit seinen geschwinden Mauseaugen an, die seltsam nah am Nasenrücken saßen.
„Kufalt“, stellte sich Kufalt ganz unnötig vor. Er wußte noch immer nicht, wer sein Besucher war. Das kapierte der sofort. „Ach so“, sagte er. „Sie erinnern sich nicht mehr. Sie haben doch an den ,Stadt- und Landboten‘ geschrieben wegen Arbeit. Wegen Ihrer unglücklichen Lage. Man hat da hin und her geredet auf der Redaktion wegen Ihres Briefes, aber natürlich tut keiner von den großen Leuten was, und so bin ich hier!“
Er lächelte einladend und schien den Fall für geklärt anzusehen.
Der ,Stadt- und Landbote‘ war die kleinere Konkurrenz jener größeren Zeitung, deren Herrn Scialoja Kufalt eben besucht hatte.
„Ja“, sagte Kufalt zögernd und legte die Bücklinge auf den Waschtisch. „Und Sie haben also Arbeit für mich?“
„Vielleicht“, sagte Herr Dietrich. „Wer lebt, wird erleben.“
„Und was müßte ich tun, um vielleicht Arbeit zu bekommen?“
Sie hatten sich beide gesetzt und sahen einander freundlich an.
„Wissen Sie“, sagte Herr Dietrich und neigte sich so nahe zu Kufalt, daß der feststellen konnte, Herr Dietrich hatte heute schon Kognak getrunken. „Wissen Sie, ich bin nämlich auch nicht angestellt beim ,Stadt- und Landboten‘. Ich bin ein freier Mann.“
Kufalt zog sich ein wenig zurück. Sowohl vor dem Atem wie vor der Eröffnung.
„Aber“, sagte Herr Dietrich – und dieses Aber hatte mindestens sieben a–, „ich habe vielerlei zu tun. Ich habe viele Dinge in meinem Kopf.“
Kufalt glaubte, das schon einmal heute gehört zu haben, und saß still abwartend da.
„Erstens“, erklärte Herr Dietrich und legte seine Hand sachte auf Kufalts Hand, „erstens bin ich Abonnentenwerber für den ,Stadt- und Landboten‘.“
Er hob seine Hand hoch, betrachtete sie nachdenklich. Daß die Nägel, so kurz sie auch abgebissen waren, ziemlich dreckig aussahen, schien er nicht zu bemerken. Nach der Betrachtung der Hand legte er sie ein zweites Mal auf Kufalt.
„Zweitens“, sagte Herr Dietrich, „bin ich Annoncenakquisiteur für dieselbe Zeitung.“
Wieder dasselbe Manöver mit der Hand. Und wieder kam die Hand zu Kufalts Hand zurück.
„Drittens“, sagte Herr Dietrich, „werbe ich für eine freiwillige Krankenkasse Versicherte und erhebe die Beiträge.“
Die Hand flog wieder in die Luft und kehrte wieder zu Kufalt zurück.
„Viertens kassiere ich für die hiesige Gastwirtsinnung die Innungsbeiträge.“
Kufalt war überzeugt, daß Herr Dietrich gerade an diesem Morgen bei den Gastwirten Innungsbeiträge kassiert hatte. Er wußte nicht, wie lange Herr Dietrich schon in seinem Zimmer gesessen hatte. Aber jedenfalls roch das Zimmer entschieden spirituös.
„Fünftens“, erklärte Herr Dietrich feierlich, „erhebe ich auch die Mitgliedsbeiträge beim Turnverein ,Alte Eiche‘.«
„Sechstens bin ich aber auch der Geschäftsführer des hiesigen ,Wirtschaftsund Verkehrsvereins‘ und gebe alle Auskünfte, die sonst von dem ganzen Stab eines Mitteleuropäischen Reisebüros erteilt werden.“Kufalt wartete, ob noch Weiteres käme, aber die Hand blieb in der Luft und wanderte dann in die Tasche von Herrn Dietrich, wo sie mit Silbergeld klimperte.
„Jedenfalls will er mich nicht anpumpen“, dachte Kufalt.
„Ihr Schicksal hat mich direkt erschüttert“, sagte Herr Dietrich überleitend. „Ich versichere Ihnen: direkt erschüttert.“
Pause. Eigentlich müßte Kufalt nun etwas sagen. Aber er sagte nichts. Herr Dietrich wandte sein Gesicht plötzlich scharf seinem Gesprächspartner zu: „Und was denken Sie nun, was ich für Sie tun kann?“fragte er.
„Ja, ich weiß doch nicht“, sagte Kufalt zögernd.
„Gehalt kann ich Ihnen nicht zahlen“, erklärte Dietrich mit Entschiedenheit.