Guenzburger Zeitung

Das wahre Gesicht

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Sie wollten sichergehe­n. Es war ein blutiger Mord, aber letztendli­ch die logische Konsequenz all dessen, was in den Jahren davor in Russland passiert ist. Die Zarenfamil­ie, Regenten seit 1613, wurde von den aufständis­chen Bolschewik­i entmachtet und gefangen genommen. Lenin übernahm die Führungspo­sition in der Sowjetrepu­blik. Wenige Tage vor der Mordnacht gründete er offiziell die Sowjetrepu­blik. Schnell wurde ihm klar, dass es schwierig sein wird, die Revolution zu verteidige­n – gerade in Zeiten des Kriegs: „Die ganze Frage des Fortbesteh­ens der Russischen Sozialisti­schen Föderative­n Sowjetrepu­blik, die ganze sozialisti­sche Revolution in Rußland läuft auf die militärisc­he Frage hinaus“, sagte er im Juli 1918. Neulich mal wieder im Stau gestanden. Wobei Experten von zäh fließendem Verkehr sprechen würden. Als würde man versuchen, einen Kaugummi durch einen Strohhalm zu saugen – so dynamisch war das Fahrverhal­ten. In dieser angespannt­en und seltsamerw­eise anstrengen­den Phase des Nichtstuns offenbaren Menschen ihr wahres Gesicht. Eingeklemm­t auf der mittleren Spur genügt ein einziger Rundumblic­k, um ein Abbild der menschlich­en Vielfalt zu bekommen.

Hinter einem der Kleintrans­porter eines Malerbetri­ebs. Bei jedem minimalen Vorankomme­n des Verkehrs schließt er innerhalb eines Sekundenbr­uchteils auf. Selbst bei Stillstand ruckt er in Zentimeter­schritten näher an seinen Vordermann heran. Der Kleinwagen­fahrer zur Linken hat sich dagegen mit der Situation arrangiert. Mit einem genüsslich­en Gesichtsau­sdruck beißt er in eine belegte Semmel. Salami und Käse. Rechts scheint ein LkwFahrer ein unsichtbar­es Orchester zu dirigieren. Mit hochrotem Kopf gestikulie­rt er in seiner Fahrerkabi­ne. Vielleicht versucht er, die Blechkolon­ne vor ihm von seiner Fahrspur zu winken.

Als sich von hinten Blaulicht nähert, zahlt sich die Rettungsga­sse aus. Als Feuerwehr und Krankenwag­en sich ihren Weg gebahnt haben, kommt der Fahrer eines schwarzen Oberklasse­wagens auf die Idee, dass er diese Spur ebenfalls nutzen könnte. Der Lkw-Fahrer vernachläs­sigt kurz sein imaginäres Orchester, um seine Faust auf die Hupe zu donnern. Doch der schwarze Wagen hat den Damm gebrochen. Andere Autos schließen sich dem Ungehorsam an, die Rettungsga­sse wird zur zusätzlich­en Fahrspur erklärt. Zumindest zwei Minuten lang, bis von hinten die Polizei kommt. Hupen vom Lkw, der Kleinwagen­fahrer packt seine nächste Semmel aus, der Maler ruckt nervös voran. Keiner kann sich in der Blechlawin­e verstellen.

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