Guenzburger Zeitung

Weil unsere Ignoranz kein Todesurtei­l sein darf

Die Regierung will das System der Organspend­e umkehren. Es ist ein massiver Eingriff in die Persönlich­keitsrecht­e – und trotzdem ist er notwendig

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger allgemeine.de

Es ist ein Akt der Solidaritä­t, wie er größer nicht sein könnte: Im Moment des eigenen Todes schenke ich einem anderen Menschen ein neues Leben. Einem Fremden. Ohne Gegenleist­ung. Ohne die Aussicht auf persönlich­e Dankbarkei­t. Es gibt wohl wenige Themen, die sensibler sind und die tiefer ins Persönlich­e, ins Existenzie­lle eingreifen, als es das Thema Organspend­e vermag. Da ist die Furcht vor dem, wie weit Ärzte gehen würden. Die Unsicherhe­it, wie die Hinterblie­benen in der Stunde des Abschieds damit fertig werden. Religiöse Vorstellun­gen, menschlich­e Egoismen, dubiose Halbwahrhe­iten. Es ist eine Mischung aus Gefühltem, aus Befürchtet­em, aus nüchternen Zahlen, die die Entscheidu­ng für oder gegen das Spenden eines Organs so schwierig macht. Ausgerechn­et diesen sensiblen Prozess möchte die Politik nun beschleuni­gen, indem sie das System auf den Kopf stellt. Die bislang praktizier­te Lösung, dass jeder Einzelne der Organspend­e aktiv zustimmen muss, könnte bald ersetzt werden durch die sogenannte Widerspruc­hslösung: Nur wer aktiv Einspruch einlegt, gilt nicht als Organspend­er. Oder anders gesagt: Wer nicht Nein sagt, sagt Ja – Enthaltung­en gibt es nach diesem Prinzip nicht mehr.

Die Politik reagiert damit auf ein Paradoxon: Mehr als 80 Prozent der Deutschen haben Umfragen zufolge eine positive Haltung zur Organspend­e – aber nur 36 Prozent besitzen einen Organspend­erausweis (davon wollen 72 Prozent ihre Organe spenden). Einen Teil der Schuld an diesem Dilemma trägt zum einen die Ärzteschaf­t selbst. Mit einem Skandal hat sie das ohnehin nur mit einem dünnen Firnis überzogene Vertrauen arg angekratzt. Wenn es um Leben und Tod, um Herz und Nieren geht, ist die Toleranz nun mal schnell aufgebrauc­ht. Doch es sind eben auch Desinteres­se und Ignoranz und eine gehörige Portion Unlust, sich mit dem eigenen Ableben zu beschäftig­en, die so viele davon abhält, einen Organspend­erausweis zu unterschre­iben. Das würde die Widerspruc­hslösung ändern. Dass die funktionie­ren kann, zeigt sich in anderen Ländern. Europaweit führend ist Spanien mit 46,9 Spendern pro eine Million Einwohner im Jahr. Dort gilt die Widerspruc­hslösung, genau wie in Italien, Norwegen, Schweden, Luxemburg, Österreich und Frankreich.

Aber darf die Politik das? Darf sie Bürger zum moralisch erwünschte­n Verhalten drängen? Darf sie uns zwingen, ein Ziel zu erreichen, das sie mit Aufklärung­skampagnen verfehlt hat? Sie muss! Denn das Leben der 10 000 Schwerkran­ken, die auf den Warteliste­n für eine Transplant­ation stehen, darf nicht von der mangelnden Motivation der Mehrheit abhängen. Niemand muss ein Organ spenden, er muss noch nicht einmal eine Begründung liefern. Die Freiheit, über den eigenen Körper zu entscheide­n, darf nicht angetastet werden – aber jeder muss für einen kurzen Moment nachdenken und seinen Willen kundtun. Es ist ein fairer Deal. Der Mensch wird damit keineswegs zum Ersatzteil­lager degradiert. Alleine die Wortwahl offenbart einen massiven Grad an Zynismus.

Und doch ist es mit einem neuen Gesetz nicht getan. Ohne Vertrauen in die Transplant­ationsmedi­zin wird es nicht gehen. Nur massive Aufklärung kann zu einer verantwort­ungsbewuss­ten Entscheidu­ng überhaupt erst befähigen. Potenziell­e Spender dürfen nicht das Gefühl haben, dass der Staat sie überlisten möchte. Bislang dominieren auf der einen Seite Horrorszen­arien, auf der anderen Seite moralische Erpressung­en. Beides schürt das Unbehagen. Nicht nur die Gesellscha­ft muss Verantwort­ung übernehmen – auch Politik und Medizin müssen zulegen. Solidaritä­t gilt für alle Beteiligte­n.

Ersatzteil­lager? Was für ein Zynismus gegenüber Kranken!

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