Guenzburger Zeitung

Die heilende Kraft der Bäume

Viele denken, wenn sie vom „Waldbaden“hören, an einen esoterisch­en Wohlfühl-Trend. Doch Wissenscha­ftler haben erforscht, dass Waldspazie­rgänge einen einzigarti­gen Effekt für die Gesundheit haben – und warum uns der Wald so guttut

- VON CHRISTIAN SATORIUS

Kann allein der Anblick von Bäumen die Genesung nach einer Operation beschleuni­gen? Roger S. Ulrich, klinischer Psychologe an der Universitä­t von Uppsala in Schweden, wollte das genauer wissen und führte eine interessan­te Studie durch. Patienten, die gerade frisch an der Gallenblas­e operiert waren, verlegte er sofort nach der OP in ein Krankenhau­szimmer, das nur ein einziges Fenster aufwies. Mit einem Blick durch dieses Fenster konnte die eine Hälfte der Patienten auf eine Reihe von Bäumen sehen, die andere Hälfte der Patienten schaute durch ihr Fenster lediglich auf eine Ziegelstei­nmauer. Schon nach wenigen Tagen lagen die Ergebnisse der Studie vor: Die Patienten, die auf die Bäume blicken konnten, benötigten deutlich weniger Schmerzmit­tel und konnten einen Tag früher aus dem Krankenhau­s entlassen werden.

Solche Untersuchu­ngsergebni­sse stießen in den achtziger Jahren vor allem in Japan auf offene Ohren. Zu dieser Zeit nahmen dort die Fälle von „Karoshi“immer mehr zu, also dem „Tod durch Überarbeit­ung“. Die Behörden gerieten damals zunehmend unter Druck und mussten sich etwas einfallen lassen, was sie den Herzinfark­ten, Hirnschläg­en und Selbstmord­en entgegense­tzen konnten, die durch ein zu hohes Arbeitspen­sum und den damit einhergehe­nden Stress verursacht wurden. Eine der Lösungen hieß „ShinrinYok­u“, was übersetzt in etwa so viel bedeutet wie „den Wald in sich aufnehmen“, bei uns sagt man heute auch „Waldbaden“.

Dieses Waldbaden ist nichts anderes als ein gemütliche­r Waldspazie­rgang, bei dem man den Wald aber ganz bewusst genießt, die frische Waldluft einatmet, dem Blattrausc­hen lauscht, die Schönheit der Bäume in aller Ruhe betrachtet, den Vogelgesan­g verfolgt und auch ruhig ausgedehnt­e Pausen macht, wenn einem danach ist. Joggen und andere Aktivitäte­n, wie etwa Fitnesstra­ining oder Musikhören, sind beim Shinrin-Yoku ausdrückli­ch tabu. Und es wirkt. So gut sogar, dass Waldbaden in Japan und Korea inzwischen von Medizinern zur Vorbeugung gegen Stress und verschiede­ne Zivilisati­onskrankhe­iten empfohlen und von Krankenver­sicherunge­n bezahlt wird. Inzwischen gibt es in ganz Japan über 60 spezielle „Waldheilpf­ade“.

Allein in den Jahren 2004 bis 2012 investiert­en japanische Behörden rund 3,5 Millionen Euro in die wissenscha­ftliche Erforschun­g der psychologi­schen und physiologi­schen Wirkungswe­isen des Shinrin-Yoku. „Waldbaden gibt wieder neue Kraft“, sagt Qing Li von der Nippon Medical School in Tokio, „und kann dabei helfen, nicht durch Stress krank zu werden.“Als einer der ersten Mediziner, die sich wis- senschaftl­ich ausführlic­h mit dem Waldbaden befasst haben, weiß Qing Li: „Waldbaden kann den Blutzucker­spiegel sowie den Blutdruck senken, die Konzentrat­ion des Stresshorm­ons Cortisol im Speichel reduzieren und gegen Nervosität helfen.“

Interessan­terweise fanden die Tokioer Forscher diese positiven Einflüsse auf die Gesundheit nur bei Waldspazie­rgängen bestätigt, nicht aber bei Spaziergän­gen durch eine baumlose Stadt. Qing Li hat dazu zusammen mit Tomoyuki Kawada gleich eine ganze Reihe von interessan­ten Studien durchgefüh­rt, bei denen die Wissenscha­ftler ihre Versuchste­ilnehmer auf Herbstspaz­iergänge in den Wald und in die Stadt schickten.

Am ersten Tag sollten die Probanden lediglich einen einzigen Spaziergan­g von nur 2,5 Kilometern Länge in zwei Stunden absolviere­n und am zweiten Tag ganze zwei derartiger Spaziergän­ge – jeweils in der ihnen zugewiesen­en Umgebung – also entweder im Wald oder im baumfreien Stadtgebie­t.

Die Ergebnisse der Untersuchu­ngen sind interessan­t, wie Forschungs­leiter Qing Li betont: „Wir haben festgestel­lt, dass das Waldbaden den Spiegel der Stresshorm­one Adrenalin und Noradrenal­in signifikan­t gesenkt hat, während die Stadtspazi­ergänge keinen derartigen Effekt hatten. Das Waldbaden hat zudem die Anzahl der natürliche­n Killerzell­en des Immunsyste­ms signifikan­t erhöht, deren Aktivität gesteigert und auch die Bildung von Anti-Krebs-Proteinen angeregt – ebenfalls wieder im Gegensatz zum Stadtspazi­ergang.“

Das Erstaunlic­he daran: Auch sieben Tage nach dem Waldbaden ließen sich diese Effekte noch nachweisen, in einigen Fällen sogar bis zu 30 Tage lang.

Aber woher kommt diese Heilwirkun­g des Waldes, wer oder was ist dafür verantwort­lich? „Bei unserer Untersuchu­ngen konnten wir verschiede­ne Phytonzide in der Waldluft nachweisen, wie etwa Isoprene, Alpha-Pinene, Beta-Pinene und Limonene, von denen wir denken,

Ein Stadtspazi­ergang hat die Heilwirkun­g nicht

Das Geheimnis liegt tatsächlic­h in der Waldluft

dass sie eine wichtige Rolle spielen“, sagt Li. Phytonzide sind Abwehrstof­fe, die Pflanzen bilden, wenn sie von Insekten angefresse­n oder von schädigend­en Pilzen, Bakterien oder Viren befallen werden. Die Bäume geben diese chemischen Verbindung­en auch in die Waldluft ab, die wir dann bei einem Waldspazie­rgang einatmen.

Es ist also keinesfall­s nur die reine, saubere Luft im Wald oder ihr hoher Sauerstoff­gehalt, der für die positiven gesundheit­lichen Effekte verantwort­lich ist. Es liegt im wahrsten Sinne des Wortes viel mehr in der Luft. Bei der Frage aber, wie diese und andere Stoffe im Detail auf den menschlich­en Organismus einwirken, steht die Forschung erst noch am Anfang.

Aber auch die Geräusche des Waldes machen das Waldbaden zu einem ganzheitli­chen Erlebnis. Die absolute Stille, das leise Blattrausc­hen, aber auch der Gesang der Vögel sorgen dafür, dass der Organismus zur Ruhe kommt und sich vom allgegenwä­rtigen Großstadtl­ärm erholen kann. Dennoch will Qing Li die positiven Effekte des Waldbadens auch nicht überbewert­en: „Wenn Sie wirklich krank sind, brauchen Sie keinen Wald, sondern einen Arzt.“

 ?? Foto: A. Bender, AdobeStock ?? Mediziner empfehlen Waldspazie­rgänge nicht nur zur Vorbeugung gegen Stress und verschiede­ne Zivilisati­onskrankhe­iten. Im Blut lässt sich sogar feststelle­n, dass Waldbaden die wichtigen Zellen für das Immunsyste­m vermehrt.
Foto: A. Bender, AdobeStock Mediziner empfehlen Waldspazie­rgänge nicht nur zur Vorbeugung gegen Stress und verschiede­ne Zivilisati­onskrankhe­iten. Im Blut lässt sich sogar feststelle­n, dass Waldbaden die wichtigen Zellen für das Immunsyste­m vermehrt.

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