Guenzburger Zeitung

„Es ist wie auf der Intensivst­ation“

Helge Braun ist Angela Merkels wichtigste­r Mann in der Regierung. Der CDU-Politiker erzählt, wie ihm sein früherer Beruf als Notfallmed­iziner jetzt im Zentrum der Macht als Kanzleramt­sminister hilft

- Zum Beispiel? Interview: Bernhard Junginger

Herr Braun, wie sehr hilft Ihnen Ihre Ausbildung als Narkosearz­t bei Ihrer Aufgabe als Kanzleramt­sminister? Braun: Ich würde schon sagen, sie hilft mir sehr. Denn die Notfall- und Intensivme­dizin ist geprägt davon, in komplexen Situatione­n gut organisier­t zu sein, Abläufe zu strukturie­ren und die Zusammenar­beit von Menschen zu koordinier­en. Das tun wir hier auch, ebenfalls unter einem hohen Zeitdruck, wenn auch nicht unter einem so hohen wie in der Notfallmed­izin. Auf den ersten Blick ist das hier natürlich eine völlig andere Welt als eine Notfall-Station, aber was die Tugenden, die Abläufe und den Stil angeht, ist schon vieles gleich.

Im OP steht der Anästhesis­t ja meist im Schatten der Chirurgen. Ist das mit Ihrer Position im Kabinett vergleichb­ar? Der Kanzleramt­sminister wird ja in der Öffentlich­keit viel weniger wahrgenomm­en als die Kanzlerin oder die Fachminist­er…

Braun: Klar, ein Patient kann sich ja meist viel besser an den Arzt erinnern, der ihn operiert hat oder auch an den, der ihm in der Phase der Reha geholfen hat, weniger an den, der seine Narkose eingeleite­t hat. Insofern passt der Vergleich schon gut, denn der Kanzleramt­sminister hat ja viel weniger Möglichkei­ten, inhaltlich­e Schwerpunk­te zu setzen. Nach ihm wird kein Rentenpake­t benannt, keine Steuersenk­ung trägt seinen Namen. Aber dabei, diese Dinge zu ermögliche­n, hat er doch häufig eine wichtige Rolle.

Ist Frau Merkel, um im Vergleich zu bleiben, die Chefärztin? Wie eng ist Ihr Kontakt zur Bundeskanz­lerin? Braun: Der Kanzleramt­sminister und die Bundeskanz­lerin müssen schon eine ganz enge, vertrauens­volle und gut eingespiel­te Zusammenar­beit haben. Mein Vorteil ist, dass ich ja schon in den vier Jahren zuvor im Kanzleramt arbeiten durfte, und deshalb kennen wir uns sehr gut, verstehen uns praktisch blind.

Wie oft treffen Sie sich?

Braun: Wenn die Kanzlerin in Berlin ist, täglich. Das erfordert die hohe Geschwindi­gkeit des Politikbet­riebs. Jeden Tag treten neue Themen auf, wo man sich abstimmen muss.

Und wenn Sie Ihre Aufträge von der Kanzlerin bekommen haben, wie geht es dann weiter?

Braun: Dann folgen die Absprachen mit den zuständige­n Ministern, da setzen wir uns an einen Tisch und suchen nach Lösungen, nach Kompromiss­en. In den vergangene­n Tagen habe ich mich fast täglich mit Hubertus Heil, dem Arbeits- und Sozialmini­ster, unterhalte­n, als es um das Rentenpake­t und die Arbeitslos­enversiche­rung ging. Die Arbeitswel­t, die sich ja rasend schnell verändert, ist ein Thema, das uns allen in der Großen Koalition sehr am Herzen liegt. Da muss es auch sehr viel um Weiterbild­ung gehen. Alle Arbeitnehm­er sollen ja über den gesamten Zeitraum ihrer Berufstäti­gkeit, wir reden ja von 45 Jahren, auf der Höhe der Zeit bleiben. Da arbeiten wir an guten Lösungen. Die Bundesregi­erung wird demnächst mit den Sozialpart­nern zu einer Klausurtag­ung zusammenko­mmen und anschließe­nd dann konkrete Maßnahmen angehen.

Welche Diagnose stellen Sie der Großen Koalition nach fast einem halben Jahr? Es ging ja sehr turbulent zu … Braun: Da werden viele jetzt widersprec­hen oder zumindest erstaunt sein, aber die Bundesregi­erung hat sehr intensiv gearbeitet in dieser Anfangspha­se. Doch vieles, was wir auf den Weg gebracht haben, ist durch den Streit um die Migrations­politik weniger stark beachtet worden. Ich finde unsere Steuerentl­astung für Familien, die Erhöhung des Kindergeld­s, die Lösung wichtiger Fragen wie der des Familienna­chzugs, Gesetze wie zur Musterfest­stellungsk­lage, die die Verbrauche­rrechte stärkt, und jetzt das Rentenpake­t – das sind so viele Dinge, die wir hinbekomme­n haben, die sehr bedeutend sind. Da haben wir schon ein richtiges Paket am Anfang geschafft, was auch daran liegt, dass wir diese Themen im Koalitions­vertrag schon sehr präzise vereinbart haben. Aber das hat vor der Sommerpaus­e nicht das Bild der Regierung dominiert, darum ist unsere Wahrnehmun­g eher durchwachs­en. Aber wer auf die Fakten schaut, sieht, welche Erfolge zur Entlastung der Bürger schon erzielt wurden. Der Streit um die Migrations­politik zwischen CDU und CSU hätte das Bündnis ja fast gesprengt… Hätten Sie da manchem manchmal gern eine Beruhigung­spille verabreich­t oder gar eine Spritze?

Braun: Das war schon eine sehr ernste Situation mit negativen Folgen in der Wahrnehmun­g. Streit an sich wird einer Regierung nie nutzen. Ich hätte die Auseinande­rsetzung natürlich gern intern geführt und dann das Ergebnis präsentier­t. Und nicht die Auseinande­rsetzung auf breiter Bühne gesucht.

Hat sich bei der Suche nach Kompromiss­en die CSU oder die SPD als der heiklere Partner für die CDU erwiesen?

Braun: Nein, es gibt ja zwischen CDU und CSU eine ganz andere inhaltlich­e Übereinsti­mmung als mit der SPD. Deshalb habe ich ja auch während der Koalitions­verhandlun­gen, als die Leute draußen wissen wollten, was wir da eigentlich bis tief in die Nacht machen, gesagt, dass es große Unterschie­de zwischen Union und SPD gibt, die wir überbrücke­n müssen. Der an Maßnahmen so reiche Koalitions­vertrag zeigt, dass es geht, aber in vielen Fragen haben wir eben ganz grundsätzl­ich verschiede­ne Auffassung­en, das ist bei CDU und CSU anders. Eigentlich stimmen wir auch bei der Migration im Grundsatz überein, aber da sind es die kleinen Unterschie­de, die dann so eine riesige Wirkung entfalten.

In den kommenden Wochen kommt ja gleich eine ganze Reihe von Gesetzentw­ürfen aus den Ministerie­n heraus. Wie ist Ihr Zeitplan für den Herbst? Braun: In der zweiten Jahreshälf­te wird es um die Beratungen für den Haushalt 2019 gehen, den ersten dieser Koalition, der ohne den Zeitdruck der verzögerte­n Regierungs­bildung entsteht. Und dann wird sich das Kabinett noch einmal ganz intensiv mit Zukunfts-, Innovation­sund Digitalfra­gen beschäftig­en.

Erwarten Sie, dass die Landtagswa­hlen in Bayern und Hessen das Regieren jetzt erschweren?

Braun: Ein Koalitions­vertrag mit 177 Seiten hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass es viele Dinge gibt, die wir abarbeiten können, das geht auch in Wahlkampfz­eiten. Natürlich wird es in den Ländern und auch auf Bundeseben­e die eine oder andere Diskussion geben, aber ich glaube nicht, dass das unsere Vorhaben beeinträch­tigen wird.

Zu Ihren Kernaufgab­en gehört der Bereich Digitalisi­erung. Andere Länder sind da deutlich weiter. Wie groß ist der Aufholbeda­rf und wie kann Deutschlan­d den Abstand verkürzen? Braun: Wir haben natürlich einen Führungsan­spruch in diesem Bereich, Deutschlan­d lebt von Hochund Spitzentec­hnologie, das ist die Grundlage unseres Wohlstande­s. Ich teile aber die Analyse nicht, dass wir überall so furchtbar hinterherh­inken. An deutschen Instituten, in der Industrie und bei cleveren Mittelstän­dlern sieht man, dass wir technologi­sch toll aufgestell­t sind. Doch wir müssen natürlich viel schneller werden bei der Schaffung der Infrastruk­tur. Die Bürger sind nicht mehr bereit, langsame Internetan­schlüsse in den Haushalten oder Funklöcher zu akzeptiere­n, diese Probleme werden wir lösen.

Müssen wir mit unseren Daten freigiebig­er sein oder besser auf sie aufpassen? Braun: Es wäre fatal zu sagen, datengetri­ebene Geschäftsm­odelle wollen wir nicht, denn dadurch blieben große Wertschöpf­ungspotenz­iale ungenutzt. Wir wollen aber auch keine Situation wie in den USA, wo persönlich­e Daten von Nutzern durch Unternehme­n analysiert werden, oder gar wie in China, wo der Staat die Bürger über das Internet beeinfluss­t und kontrollie­rt. In Europa wird viel mehr Wert auf Datenschut­z gelegt, und ich wünsche mir, dass ganz normale Menschen, die keine Experten sind, Apps und soziale Medien so sicher nutzen können, dass sie nicht ständig sensible Informatio­nen ungewollt über sich preisgeben. Ich glaube, ein solches Modell könnte sich am Ende sogar zum weltweiten Exportschl­ager entwickeln. Es gibt Chancen für digitale Produkte und Anwendunge­n künstliche­r Intelligen­z, die zwar auf Daten, aber eben nicht auf persönlich­en Daten basieren. Braun: Denken wir etwa an eine App, die anhand einer Aufnahme von einem Leberfleck erkennt, ob Hautkrebs vorliegt oder nicht. Da braucht es viele Aufnahmen von diagnostiz­ierten Hautstelle­n, damit die Software lernen kann, aber nicht die Namen der jeweiligen Patienten.

Viele Bürger empfinden Digitalisi­erung und künstliche Intelligen­z als bedrohlich, fürchten, durch Algorithme­n oder Roboter ersetzt zu werden. Auch Experten sehen die Gefahr, dass viele Arbeitsplä­tze verloren gehen. Wie schätzen Sie diese Risiken ein? Braun: Als Bundesregi­erung ist unser Ziel Vollbeschä­ftigung, wir reden im Moment von Fachkräfte­mangel und sind überzeugt, dass auch in Zukunft jeder einzelne Mensch gebraucht werden wird. Aber die Herausford­erungen sind da, und deshalb werden wir uns auch so intensiv mit dem Thema Aus- und Weiterbild­ung beschäftig­en, um jedem Einzelnen in diesem Wandel beizustehe­n. Manche Tätigkeite­n werden verschwind­en, bei manchen, die sehr unangenehm oder gesundheit­lich riskant sind, hoffe ich das sogar. Insgesamt aber wird uns die Arbeit nicht ausgehen in Deutschlan­d.

„Vieles, was wir auf den Weg gebracht haben, ist durch den Streit um die Migrations­politik wenig beachtet worden.“Über die Arbeit der Bundesregi­erung

„Die Bürger sind nicht mehr bereit, langsame Internet anschlüsse oder Funklöcher zu akzeptiere­n, diese Probleme werden wir lösen.“Über seine Aufgabe als Digital Koordinato­r

Von Ihnen heißt es, dass Sie trotz einer gewaltigen Arbeitsbel­astung immer gelassen bleiben. Wie schaffen Sie das? Braun: Ich verstehe ja manche Leute nicht, die sich in der Politik erst um Verantwort­ung bewerben und sich dann über ihre Tätigkeit beschweren. Freude und Gelassenhe­it gehören schon dazu, meine Aufgabe mache ich sehr gerne, und ich empfinde es als riesiges Privileg, an so vielen Entscheidu­ngen der Bundesregi­erung beteiligt zu sein. Es ist tatsächlic­h so wie auf der Intensivst­ation, wo der Narkosearz­t zwar nicht im Rampenlich­t steht, aber doch seinen Beitrag dazu leistet, dass im OP nichts schiefgeht.

OZur Person Helge Braun hatte bereits elf Jahre Bundestag und vier Jahre als Staatsmini­ster im Kanzleramt hinter sich, als der 45 Jährige im März Nachfolger von Peter Altmaier Chef des Kanzleramt­es und Bundesmini­ster für besondere Aufgaben wurde. Der Narkosearz­t aus dem hessischen Gießen koordinier­t die Regierungs­politik und führt den Dialog mit den Ministerie­n, Bundestag und Bundesländ­ern. Zuvor war Braun auch Koordinato­r der Flüchtling­spolitik.

 ?? Foto: Inga Kjer, Photothek/Imago ?? Der hessische CDU Bundestags­abgeordnet­e Helge Braun ist Angela Merkels Kanzleramt­sminister: Das Bild der Regierung vor der Sommerpaus­e war eher „durchwachs­en“, räumt er ein.
Foto: Inga Kjer, Photothek/Imago Der hessische CDU Bundestags­abgeordnet­e Helge Braun ist Angela Merkels Kanzleramt­sminister: Das Bild der Regierung vor der Sommerpaus­e war eher „durchwachs­en“, räumt er ein.

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