Guenzburger Zeitung

Vom Zuspitzen und Übertreibe­n

Der Streit um das Wort „Hetzjagd“offenbart ein wachsendes Problem in Politik, Medien und Gesellscha­ft

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger allgemeine.de

Als Regierungs­sprecher gibt Steffen Seibert seine Stellungna­hmen auch im Namen der Bundeskanz­lerin ab. Vor zehn Tagen verurteilt­e er „Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft“und den Versuch, „Hass auf den Straßen zu verbreiten“. Am Tag zuvor wurde die Polizei in Chemnitz der Situation kaum Herr: Zahlreiche Rechtsextr­emisten instrument­alisierten die Proteste mit Hassparole­n und Gewalt, nachdem ein 35-jähriger Chemnitzer mutmaßlich von Flüchtling­en erstochen wurde.

Bevor Seibert Regierungs­sprecher wurde, war er einer der Topjournal­isten des ZDF. Zu dem Handwerksz­eug der Medienprof­is gehört das sogenannte „Zuspitzen“. Als Regel gilt unter seriösen Journalist­en: Auf den ersten Blick trockene oder bisweilen langweilig­e Themen werden so zugespitzt, dass das Interesse einer breiten Masse geweckt wird. Umgekehrt geben Profis dramatisch­e Ereignisse da- sprachlich möglichst nüchtern wieder, um die Wucht der Geschehnis­se wirken zu lassen.

Das war schon vor über hundert Jahren so, als Zeitungen die simple Schlagzeil­e wählten „Der Kaiser ist tot“und nicht „Der Tod des Kaisers erschütter­t das Land“. Umgekehrt schreiben Medien heute nicht: „Die Koalition diskutiert, ob sie die Sozialbeit­räge um 0,3 oder 0,5 Prozentpun­kt senken soll“, sondern spitzen zu: „Koalition streitet um Entlastung der Bürger“.

Der Chefredakt­eur der in Chemnitz erscheinen­den Zeitung Freie

Presse, Torsten Kleditzsch, erinnerte kurz nach den Krawallen an journalist­ische Grundregel­n: Es bedarf keiner Dramatisie­rung. So begründete er in einem viel beachteten Beitrag, warum seine Zeitung den Begriff „Hetzjagd“nicht verwende. „Der offen zutage getretene Hass, der die Proteste auf den Straßen in Chemnitz am Sonntag begleitet hat, war schrecklic­h genug.“Allenfalls der Begriff „Jagdszene“sei angesichts der Angriffe am Rande der Demonstrat­ion gerechtfer­tigt.

Vor diesem Hintergrun­d war Sei- berts Formulieru­ng sicher sehr zugespitzt. Ob sie übertriebe­n oder falsch war, wird sich zeigen, vorausgese­tzt die sächsische­n Ermittlung­sbehörden sind fähig, die Vorwürfe aufzukläre­n. Ob die Formulieru­ng in Seiberts besonders herausgeho­bener Funktion klug war, lässt sich heute schon sagen: Nein.

Allerdings ist man hinterher immer klüger, daher würde es dem Regierungs­sprecher gut anstehen, seine Formulieru­ng zu erklären oder zu rechtferti­gen. Denn im politische­n Streit – und die Debatte um die Folgen der Zuwanderun­gspolitik spaltet das Land – reißt auch eine Argumentat­ionskette immer an ihrem schwächste­n Glied.

Aus diesem Grund stürzen sich die Gegner der Zuwanderun­gspolitik von der politische­n Mitte bis nach extrem rechts außen jetzt so sehr auf den Begriff „Hetzjagd“und angeblich als Beweis kursierend­e Videos. Nur, selbst wenn diese Ketgegen te an diesem Punkt reißen sollte, ändert sich nichts am von zahlreiche­n Fernsehkam­eras festgehalt­enen Aufmarsch von Rechtsextr­emisten, die mit „Ausländer raus“-Chören und Hitlergruß durch Chemnitz marschiert­en und mehrere Menschen attackiert­en. Und Rechtsextr­emismus bleibt nicht nur für Ostdeutsch­land eine Gefahr.

Es ist ein wachsendes Problem in Politik, Medien und Gesellscha­ft, dass immer öfter um Worte, statt um die dahinter liegenden Probleme und deren tiefe Ursachen gestritten wird. Es wird lieber empört, statt differenzi­ert und debattiert.

Über Angela Merkels griffigen Satz „Wir schaffen das“wurde am Ende mehr geredet als über ihre Politik. Der Satz wurde zum Symbol. Und um Symbolpoli­tik wird heute oft heftiger gestritten, als um echte Lösungen gerungen: Horst Seehofer legte einen „Masterplan“vor und löste lieber wegen symbolisch­er Grenzzurüc­kweisungen eine schwere Regierungs­krise aus, als kompromiss­bereit Überzeugun­gsarbeit für seine Pläne zu leisten.

Auch Parteien wie die SPD, mit ihrer ohne Finanzieru­ngskonzept präsentier­ten Rentengara­ntie oder die linke „Sammlungsb­ewegung“zielen im Wesentlich­en auf die „Stimmung“der Bevölkerun­g ab. Wenn aber nur die – im Internetze­italter immer größere – Lust an der Empörung angeheizt wird, laufen die Politiker und Parteien Gefahr, selbst in einer Welle des Unmuts unterzugeh­en.

Der Regierungs­sprecher sollte sich erklären

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Foto: dpa Regierungs­sprecher Seibert: Reißt die Argumentat­ionskette?

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