Was es mit dem „Stopsel Club“Unterrohr auf sich hat
Etwa 150 Menschen wohnen in dem kleinen Dorf an der Kammel – und mindestens genauso viele Pferde, witzelt ein Einwohner. Was die „Rohrer“an ihrem Heimatort schätzen, welche Entdeckungen man dort machen kann und was es mit dem „Stopsel Club“auf sich hat
Unterrohr Pferdekoppeln, von Apfelbäumen gesäumte Äcker, die Kammel – ein idyllischer Anblick eröffnet sich, fährt man auf Unterrohr zu. In dem kleinen Dorf gibt es nicht viele Straßen. Wer sich etwas umschaut, kommt unweigerlich am Feuerwehrgerätehaus vorbei. Auf dieses Gebäude sind viele Unterrohrer stolz. Eingeweiht wurde es 1994 – nachdem es die Dorfbewohner in genau 3726 Arbeitsstunden, wie auf einem Dokument festgehalten ist, ohne Hilfe von Unternehmen gebaut haben. Damals war Werner Brutscher Kommandant. Er hat Bilder aus dieser Zeit archiviert und nennt die Namen seiner Kameraden, die im Fotoalbum zu sehen sind, während er durch die Seiten blättert.
Reinhard Merz, der heutige
Kommandant, hat einige Dorfbewohner in das Haus eingeladen, damit jeder sein Wissen über den Heimatort mitteilen kann – schließlich weiß jeder etwas anderes, ob aus Erzählungen von Verwandten oder persönlichen Erlebnissen. Mehr als 20 Einwohner sind gekommen – das sei in Unterrohr so üblich, sagt Merz, dass man kommt, wenn jemand ruft.
Die Feuerwehr ist der Mittelpunkt des Dorflebens. Jeder Fünfte der 150 Unterrohrer ist aktiver Feuerwehrler. Früher gab es einen weiteren Treffpunkt: das Wirtshaus „Zum Lamm“, das in der Region wegen seines guten Weins bekannt war. Die meisten nannten es schlicht „Beim Brutscher“– der Familienname der Wirtsfamilie. Luise Brutscher war 40 Jahre lang die Wirtin, heute ist sie 78 Jahre alt. „Als Wirtin wusste man über vieles Bescheid, was im Ort passiert“, erzählt sie. Schließlich haben sich alle dort getroffen, häufig am Sonntag zum Frühschoppen. Dass das Wirtshaus für seinen Wein bekannt war, hatte
einen guten Grund – Luise Brutschers Schwiegervater kam 1935 aus der Pfalz nach Unterrohr und kaufte es. Aus seiner früheren Heimat bezog er weiterhin den Wein. Von dem Neuankömmling, ein „Reigschmeckter“, rührt ein Unterrohrer Brauch, den es heute noch gibt: den alljährlichen Pfälzer Abend, ein Weinfest mitten in Kammeltal.
Auf die Frage, was es Besonderes in ihrem Dorf zu entdecken gibt, folgt prompt eine Antwort: Zwei
Jeder fünfte Unterrohrer ist bei der Feuerwehr
Gotteshäuser gibt es in dem kleinen Ort: die St.-Wolfgangskirche und die Maria-Hilf-Kapelle. Einmal im Monat findet ein Gottesdienst in dem Ortsteil der Gemeinde Kammeltal statt.
Ein kurzer Fußweg, fast nur ein Trampelpfad, führt zu der Kapelle am nördlichen Rand des Dorfes. „Am 1. Mai bringt ein Festzug mit der Feuerwehr und dem Kriegerund Soldatenverein die Mutter Maria dorthin“, sagt ein Dorfbewohner. Das sei der wichtigste Tag im Jahr für Unterrohr. In den übrigen elf Monaten des Jahrs feiert man in der St.-Wolfgangskirche den Gottesdienst.
Auf dem Turm dieser Kirche haben Störche seit 20 Jahren ihr Nest. Nebenan wohnen drei Generationen der Familie Konrad. Großvater Meinrad Konrad sagt, vergangenes Jahr seien die Elternstörche dortgeblieben. Die Jungtiere, drei waren es heuer, sind schon weggeflogen. Die Eltern scheinen wieder zu bleiben. Früher war Meinrad Konrad Zimmermann und Nebenerwerbslandwirt. Er war einer der Kameraden, die das Feuerwehrhaus gebaut haben. Seinen alten Traktor, einen Fendt Farmer Zwei aus dem Jahr 1966, hat er immer noch. Er leistet jetzt seinem Sohn, der die Landwirtschaft nebenberuflich weiterführt, gute Dienste. Drei Enkelkinder feiern mit ihm Geburtstag, der achtjährige Florian, der zweijährige Johannes und die elfjährige Lea. Der Jüngste erzählt, was anlässlich des Geburtstags auf den Tisch kommt: Zwetschgendatschi mit Obst aus dem eigenen Garten, Leberkäs und Kartoffelsalat.
An derselben Straße wohnt die Familie Nätscher auf ihrem großen Bauernhof. Maria Nätscher ist vor zehn Monaten Großmutter geworden. Sie hat zwei erwachsene Söhne. Der Jüngere hat eine Wohnung im Elternhaus ausgebaut, der Ältere mit seiner Frau ein neues Haus im großen Garten gebaut. Warum er sich dafür entschieden hat, weiter in Unterrohr zu leben? „Ich bin sehr heimatverbunden“, sagt Alex Nätscher. Die Natur, den Platz und die Gemeinschaft im Dorf schätze er am meisten in Unterrohr. „Wenn etwas im Dorf ist, dann hilft man sich“, sagt er. Erst kürzlich seien einem Unterrohrer Landwirt die Kühe
ausgebrochen. „Da hat das ganze Dorf geholfen.“
Zwei Esel und zwei Alpakas leben auch auf dem Hof. Der zehn Monate alte Julian beäugt sie kritisch, streckt dann aber doch eine Hand nach dem Esel aus, während dieser gerade Karotten aus der Hand von Maria Nätscher frisst. „Das sind unsere Rasenmäher“, sagt sie. „Esel sind nicht so grispig und grimpig wie Pferde“, also viel ruhiger, sagt sie. Die Söhne bewirtschaften noch
Die Einwohner verlassen sich aufeinander
einen Acker und einige Wiesen. Das Getreide füttern sie den Hennen und verkaufen es, das Heu kommt zu dem Esel und in einen Pferdestall, der etwas außerhalb Unterrohrs liegt.
Marion Kircher aus Unterrohr hat dort ihr Pferd Jakob eingestellt. Der Hengst ist schon 20 Jahre alt. „Der ist eine Seele“, sagt sie. Eine Freundin hat ihre zwei Kinder mitgebracht. „Sie sagen immer, sie wollen zu den Pferden“, erklärt die Mutter. Dann sei es praktisch, eine Freundin zu haben, die ein Pferd hat. „In Unterrohr gibt es alle Arten von Pferden“, sagt Kircher.
In der früheren Käserei Unterrohrs ist heute eine Schule für orientalische Tänze. Seit 30 Jahren wohnt dort Dr. Stefan Blumenthal, der als Psychotherapeut am BKH Günzburg gearbeitet hat, und seine Frau Karin, die die Tanzschule betreibt. „Wie Sie sehen, bin ich Sammler“, sagt Blumenthal in seinem Wohnzimmer. Dort sieht man Skulpturen und Gemälde aus der griechischen Mythologie und dem Orient. Seine besondere Leidenschaft ist die Fliegerei. Er sammelt Ansichtskarten, vorzugsweise mit historischen Flugzeugen, und hat ein Buch über dieses Thema geschrieben.
Auf einem Kleiderständer in dem Saal der Tanzschule hängen reich verzierte Kostüme in allen erdenklichen Farben. „Orientalische Tänze sind nicht zu verwechseln mit Bauchtanz“, erklärt Blumenthal. Seine Frau habe bei den besten Tänzerinnen Deutschlands dieser Kunst gelernt und zahlreiche Auftritt, oft im Ausland.
Er hat einige Dokumente über die Geschichte Unterrohrs gesammelt. Seit mehr als 600 Jahren gibt es das Dorf mindestens. 1384 wird es erstmals urkundlich erwähnt. Auch einige Zeit später erregt der Ort erneut Aufsehen – 1525 sind 25 Bauern Unterrohrs Teil des „Leipheimer Haufens“im Bauernkrieg.
Es gab sogar eine Limonadenfabrik in dem Ort, die „Brutscher Perle“. Marlies Brutscher war dort die Chefin. Sie ist wie die ehemalige Wirtin des Unterrohrer Wirtshauses eine Schwiegertochter des Pfälzers, der 1935 in das Dorf kam. „Früher gab es viel mehr solche Limonadenfabriken.“Im Keller ihres Hauses bewahrt sie einen Schatz, die Bierkrugsammlung
ihres Mannes, auf, die ihr Sohn geerbt hat. „ Etwa 1500 Stück aus der ganzen Region sind das.“Angefangen hat die Sammelleidenschaft ihres Mannes damit, dass er einen besonderen Krug gefunden hat: Er stammte von der Unterrohrer Brauerei. Die hatte allerdings schon aufgehört zu existieren, bevor ihr Schwiegervater das Gasthaus 1935 gekauft hat.
Einer ihrer beiden Söhne wohnt noch in Unterrohr, der andere ist weggezogen. Er arbeitet für den Elektronikkonzern Apple und wohnt in München – eigentlich fliegt er aber ständig durch die ganze Welt, sagt Marlies Brutscher. Mal nur nach Österreich, mal in die USA oder nach Singapur. „Woher er das hat, weiß ich auch nicht“, sagt sie.
Sie hat einen Weinkorken herausgesucht, der noch von ihrem Mann stammt. „Stopsel Club Unterrohr“steht darauf. Außerdem ist das Ursprungsjahr eineprägt, 1964. Die Mitglieder dieses Klubs mussten einen solchen Korken immer bei sich haben, erklärt sie, wenn sie am Wochenende
unterwegs waren – sonst wurden 50 Pfennig für die Klubkasse fällig. Damit fuhren die Männer dann auf Ausflüge. Marlies Brutscher war zu dieser Zeit nicht dabei. Sie lernte ihren Mann 1967 kennen und zog 1968 nach der Hochzeit von Ichenhausen nach Unterrohr. Von der Kleinstadt aufs viel kleinere Dorf? Das hat ihr nichts ausgemacht, sagt sie. Früher sei sie sowieso oft mit ihren Eltern in die Dörfer gefahren, um einzukehren. In Unterrohr habe es ihr schon immer besonders gut gefallen.
Die Unterrohrer sind zuversichtlich, dass ihre Dorfgemeinschaft so gut bleiben wird, wie sie ist. Der beste Beweis dafür sei ja, wie aktiv die Feuerwehr ist. Kameradinnen gibt es dort bisher drei, unter anderem Daniela Merz, die 29-jährige Tochter des Kommandaten. Da sei noch etwas Luft nach oben. Doch sollte es im Fall der Fälle bei der Feuerwehr mal zu wenig Personal geben, dann springen auch mehr Frauen ein, ist sie sich sicher – denn auf die Unterrohrer ist Verlass.