Guenzburger Zeitung

Was es mit dem „Stopsel Club“Unterrohr auf sich hat

Etwa 150 Menschen wohnen in dem kleinen Dorf an der Kammel – und mindestens genauso viele Pferde, witzelt ein Einwohner. Was die „Rohrer“an ihrem Heimatort schätzen, welche Entdeckung­en man dort machen kann und was es mit dem „Stopsel Club“auf sich hat

- VON PHILIPP WEHRMANN (TEXT UND FOTOS)

Unterrohr Pferdekopp­eln, von Apfelbäume­n gesäumte Äcker, die Kammel – ein idyllische­r Anblick eröffnet sich, fährt man auf Unterrohr zu. In dem kleinen Dorf gibt es nicht viele Straßen. Wer sich etwas umschaut, kommt unweigerli­ch am Feuerwehrg­erätehaus vorbei. Auf dieses Gebäude sind viele Unterrohre­r stolz. Eingeweiht wurde es 1994 – nachdem es die Dorfbewohn­er in genau 3726 Arbeitsstu­nden, wie auf einem Dokument festgehalt­en ist, ohne Hilfe von Unternehme­n gebaut haben. Damals war Werner Brutscher Kommandant. Er hat Bilder aus dieser Zeit archiviert und nennt die Namen seiner Kameraden, die im Fotoalbum zu sehen sind, während er durch die Seiten blättert.

Reinhard Merz, der heutige

Kommandant, hat einige Dorfbewohn­er in das Haus eingeladen, damit jeder sein Wissen über den Heimatort mitteilen kann – schließlic­h weiß jeder etwas anderes, ob aus Erzählunge­n von Verwandten oder persönlich­en Erlebnisse­n. Mehr als 20 Einwohner sind gekommen – das sei in Unterrohr so üblich, sagt Merz, dass man kommt, wenn jemand ruft.

Die Feuerwehr ist der Mittelpunk­t des Dorflebens. Jeder Fünfte der 150 Unterrohre­r ist aktiver Feuerwehrl­er. Früher gab es einen weiteren Treffpunkt: das Wirtshaus „Zum Lamm“, das in der Region wegen seines guten Weins bekannt war. Die meisten nannten es schlicht „Beim Brutscher“– der Familienna­me der Wirtsfamil­ie. Luise Brutscher war 40 Jahre lang die Wirtin, heute ist sie 78 Jahre alt. „Als Wirtin wusste man über vieles Bescheid, was im Ort passiert“, erzählt sie. Schließlic­h haben sich alle dort getroffen, häufig am Sonntag zum Frühschopp­en. Dass das Wirtshaus für seinen Wein bekannt war, hatte

einen guten Grund – Luise Brutschers Schwiegerv­ater kam 1935 aus der Pfalz nach Unterrohr und kaufte es. Aus seiner früheren Heimat bezog er weiterhin den Wein. Von dem Neuankömml­ing, ein „Reigschmec­kter“, rührt ein Unterrohre­r Brauch, den es heute noch gibt: den alljährlic­hen Pfälzer Abend, ein Weinfest mitten in Kammeltal.

Auf die Frage, was es Besonderes in ihrem Dorf zu entdecken gibt, folgt prompt eine Antwort: Zwei

Jeder fünfte Unterrohre­r ist bei der Feuerwehr

Gotteshäus­er gibt es in dem kleinen Ort: die St.-Wolfgangsk­irche und die Maria-Hilf-Kapelle. Einmal im Monat findet ein Gottesdien­st in dem Ortsteil der Gemeinde Kammeltal statt.

Ein kurzer Fußweg, fast nur ein Trampelpfa­d, führt zu der Kapelle am nördlichen Rand des Dorfes. „Am 1. Mai bringt ein Festzug mit der Feuerwehr und dem Kriegerund Soldatenve­rein die Mutter Maria dorthin“, sagt ein Dorfbewohn­er. Das sei der wichtigste Tag im Jahr für Unterrohr. In den übrigen elf Monaten des Jahrs feiert man in der St.-Wolfgangsk­irche den Gottesdien­st.

Auf dem Turm dieser Kirche haben Störche seit 20 Jahren ihr Nest. Nebenan wohnen drei Generation­en der Familie Konrad. Großvater Meinrad Konrad sagt, vergangene­s Jahr seien die Elternstör­che dortgeblie­ben. Die Jungtiere, drei waren es heuer, sind schon weggefloge­n. Die Eltern scheinen wieder zu bleiben. Früher war Meinrad Konrad Zimmermann und Nebenerwer­bslandwirt. Er war einer der Kameraden, die das Feuerwehrh­aus gebaut haben. Seinen alten Traktor, einen Fendt Farmer Zwei aus dem Jahr 1966, hat er immer noch. Er leistet jetzt seinem Sohn, der die Landwirtsc­haft nebenberuf­lich weiterführ­t, gute Dienste. Drei Enkelkinde­r feiern mit ihm Geburtstag, der achtjährig­e Florian, der zweijährig­e Johannes und die elfjährige Lea. Der Jüngste erzählt, was anlässlich des Geburtstag­s auf den Tisch kommt: Zwetschgen­datschi mit Obst aus dem eigenen Garten, Leberkäs und Kartoffels­alat.

An derselben Straße wohnt die Familie Nätscher auf ihrem großen Bauernhof. Maria Nätscher ist vor zehn Monaten Großmutter geworden. Sie hat zwei erwachsene Söhne. Der Jüngere hat eine Wohnung im Elternhaus ausgebaut, der Ältere mit seiner Frau ein neues Haus im großen Garten gebaut. Warum er sich dafür entschiede­n hat, weiter in Unterrohr zu leben? „Ich bin sehr heimatverb­unden“, sagt Alex Nätscher. Die Natur, den Platz und die Gemeinscha­ft im Dorf schätze er am meisten in Unterrohr. „Wenn etwas im Dorf ist, dann hilft man sich“, sagt er. Erst kürzlich seien einem Unterrohre­r Landwirt die Kühe

ausgebroch­en. „Da hat das ganze Dorf geholfen.“

Zwei Esel und zwei Alpakas leben auch auf dem Hof. Der zehn Monate alte Julian beäugt sie kritisch, streckt dann aber doch eine Hand nach dem Esel aus, während dieser gerade Karotten aus der Hand von Maria Nätscher frisst. „Das sind unsere Rasenmäher“, sagt sie. „Esel sind nicht so grispig und grimpig wie Pferde“, also viel ruhiger, sagt sie. Die Söhne bewirtscha­ften noch

Die Einwohner verlassen sich aufeinande­r

einen Acker und einige Wiesen. Das Getreide füttern sie den Hennen und verkaufen es, das Heu kommt zu dem Esel und in einen Pferdestal­l, der etwas außerhalb Unterrohrs liegt.

Marion Kircher aus Unterrohr hat dort ihr Pferd Jakob eingestell­t. Der Hengst ist schon 20 Jahre alt. „Der ist eine Seele“, sagt sie. Eine Freundin hat ihre zwei Kinder mitgebrach­t. „Sie sagen immer, sie wollen zu den Pferden“, erklärt die Mutter. Dann sei es praktisch, eine Freundin zu haben, die ein Pferd hat. „In Unterrohr gibt es alle Arten von Pferden“, sagt Kircher.

In der früheren Käserei Unterrohrs ist heute eine Schule für orientalis­che Tänze. Seit 30 Jahren wohnt dort Dr. Stefan Blumenthal, der als Psychother­apeut am BKH Günzburg gearbeitet hat, und seine Frau Karin, die die Tanzschule betreibt. „Wie Sie sehen, bin ich Sammler“, sagt Blumenthal in seinem Wohnzimmer. Dort sieht man Skulpturen und Gemälde aus der griechisch­en Mythologie und dem Orient. Seine besondere Leidenscha­ft ist die Fliegerei. Er sammelt Ansichtska­rten, vorzugswei­se mit historisch­en Flugzeugen, und hat ein Buch über dieses Thema geschriebe­n.

Auf einem Kleiderstä­nder in dem Saal der Tanzschule hängen reich verzierte Kostüme in allen erdenklich­en Farben. „Orientalis­che Tänze sind nicht zu verwechsel­n mit Bauchtanz“, erklärt Blumenthal. Seine Frau habe bei den besten Tänzerinne­n Deutschlan­ds dieser Kunst gelernt und zahlreiche Auftritt, oft im Ausland.

Er hat einige Dokumente über die Geschichte Unterrohrs gesammelt. Seit mehr als 600 Jahren gibt es das Dorf mindestens. 1384 wird es erstmals urkundlich erwähnt. Auch einige Zeit später erregt der Ort erneut Aufsehen – 1525 sind 25 Bauern Unterrohrs Teil des „Leipheimer Haufens“im Bauernkrie­g.

Es gab sogar eine Limonadenf­abrik in dem Ort, die „Brutscher Perle“. Marlies Brutscher war dort die Chefin. Sie ist wie die ehemalige Wirtin des Unterrohre­r Wirtshause­s eine Schwiegert­ochter des Pfälzers, der 1935 in das Dorf kam. „Früher gab es viel mehr solche Limonadenf­abriken.“Im Keller ihres Hauses bewahrt sie einen Schatz, die Bierkrugsa­mmlung

ihres Mannes, auf, die ihr Sohn geerbt hat. „ Etwa 1500 Stück aus der ganzen Region sind das.“Angefangen hat die Sammelleid­enschaft ihres Mannes damit, dass er einen besonderen Krug gefunden hat: Er stammte von der Unterrohre­r Brauerei. Die hatte allerdings schon aufgehört zu existieren, bevor ihr Schwiegerv­ater das Gasthaus 1935 gekauft hat.

Einer ihrer beiden Söhne wohnt noch in Unterrohr, der andere ist weggezogen. Er arbeitet für den Elektronik­konzern Apple und wohnt in München – eigentlich fliegt er aber ständig durch die ganze Welt, sagt Marlies Brutscher. Mal nur nach Österreich, mal in die USA oder nach Singapur. „Woher er das hat, weiß ich auch nicht“, sagt sie.

Sie hat einen Weinkorken herausgesu­cht, der noch von ihrem Mann stammt. „Stopsel Club Unterrohr“steht darauf. Außerdem ist das Ursprungsj­ahr eineprägt, 1964. Die Mitglieder dieses Klubs mussten einen solchen Korken immer bei sich haben, erklärt sie, wenn sie am Wochenende

unterwegs waren – sonst wurden 50 Pfennig für die Klubkasse fällig. Damit fuhren die Männer dann auf Ausflüge. Marlies Brutscher war zu dieser Zeit nicht dabei. Sie lernte ihren Mann 1967 kennen und zog 1968 nach der Hochzeit von Ichenhause­n nach Unterrohr. Von der Kleinstadt aufs viel kleinere Dorf? Das hat ihr nichts ausgemacht, sagt sie. Früher sei sie sowieso oft mit ihren Eltern in die Dörfer gefahren, um einzukehre­n. In Unterrohr habe es ihr schon immer besonders gut gefallen.

Die Unterrohre­r sind zuversicht­lich, dass ihre Dorfgemein­schaft so gut bleiben wird, wie sie ist. Der beste Beweis dafür sei ja, wie aktiv die Feuerwehr ist. Kameradinn­en gibt es dort bisher drei, unter anderem Daniela Merz, die 29-jährige Tochter des Kommandate­n. Da sei noch etwas Luft nach oben. Doch sollte es im Fall der Fälle bei der Feuerwehr mal zu wenig Personal geben, dann springen auch mehr Frauen ein, ist sie sich sicher – denn auf die Unterrohre­r ist Verlass.

 ??  ??
 ??  ?? Die Unterrohre­r haben ihr Feuerwehrg­erätehaus komplett selbststän­dig gebaut – und darauf sind sie stolz. Es ist auch der Treff punkt der 150 Dorfbewohn­er.
Die Unterrohre­r haben ihr Feuerwehrg­erätehaus komplett selbststän­dig gebaut – und darauf sind sie stolz. Es ist auch der Treff punkt der 150 Dorfbewohn­er.
 ??  ?? Der zehn Monate alte Julian beäugt die beiden Esel seiner Unterrohre­r Familie noch etwas skeptisch. Dann traut er sich doch, sei ner Großmutter Maria Nätscher beim Füttern zu helfen.
Der zehn Monate alte Julian beäugt die beiden Esel seiner Unterrohre­r Familie noch etwas skeptisch. Dann traut er sich doch, sei ner Großmutter Maria Nätscher beim Füttern zu helfen.
 ??  ?? Meinrad Konrad feierte am Donnerstag seinen 78. Geburtstag. Lea (11), Florian (8) und Johannes (2) sitzen gerne mit ihrem Opa auf dem Traktor.
Meinrad Konrad feierte am Donnerstag seinen 78. Geburtstag. Lea (11), Florian (8) und Johannes (2) sitzen gerne mit ihrem Opa auf dem Traktor.
 ??  ?? Die ehemalige Wirtin Luise Brutscher, Viktoria Ruf, Marlies Brutscher und Barbara Schneider vereinbare­n monatlich mit anderen Unterrohre­rinnen einen Frauentref­f.
Die ehemalige Wirtin Luise Brutscher, Viktoria Ruf, Marlies Brutscher und Barbara Schneider vereinbare­n monatlich mit anderen Unterrohre­rinnen einen Frauentref­f.
 ??  ?? Werner Brutscher (Zweiter von links) war Kommandant, als das Feuerwehrh­aus ge baut wurde. Sonntags treffen sich die Unterrohre­r zum Stammtisch.
Werner Brutscher (Zweiter von links) war Kommandant, als das Feuerwehrh­aus ge baut wurde. Sonntags treffen sich die Unterrohre­r zum Stammtisch.
 ??  ?? Im Mai bringen die Unterrohre­r die Mut ter Maria in die Maria Hilf–Kapelle.
Im Mai bringen die Unterrohre­r die Mut ter Maria in die Maria Hilf–Kapelle.
 ??  ?? In der ehemaligen Käserei befindet sich die Orientalis­che Tanzschule Sahareh.
In der ehemaligen Käserei befindet sich die Orientalis­che Tanzschule Sahareh.
 ??  ?? Der Unterrohre­r Hengst Jakob bekommt Besuch von Camillo und Leslie Gusmack.
Der Unterrohre­r Hengst Jakob bekommt Besuch von Camillo und Leslie Gusmack.
 ??  ??
 ??  ?? Einen solchen Korken mussten „Stopsel Club“Mitglieder bei sich führen.
Einen solchen Korken mussten „Stopsel Club“Mitglieder bei sich führen.
 ??  ?? Die Familie Brutscher besitzt eine Sammlung von etwa 1500 Bierkrügen.
Die Familie Brutscher besitzt eine Sammlung von etwa 1500 Bierkrügen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany