Guenzburger Zeitung

„Die Musik sucht mich“

Tony Joe White hat Songs geschriebe­n, die durch Stars wie Elvis oder Tina Turner bekannt wurden. Dabei ist der Mann aus den Südstaaten selbst ein fabelhafte­r Interpret

- VON REINHARD KÖCHL

Nashville Verkannte Genies brauchen eine gehörige Portion Leidensfäh­igkeit. Das bedeutet: Tatenlos mit ansehen zu müssen, wie andere die Früchte der eigenen Arbeit ernten. Den „Carmen“-Komponiste­n George Bizet nannten sie zu Lebzeiten einen Stümper, den Dichter Friedrich Hölderlin einen durchgekna­llten Irren und Herman Melville, dem Autor des Jahrhunder­tromans „Moby Dick“, attestiert­en sie gar einen Dachschade­n. Erst weit nach ihrem Tod widerfuhr allen jene Anerkennun­g, die ihnen schon viel früher gebührt hätte.

Muss man sich deshalb um den quickleben­digen Tony Joe White Sorgen machen? Muss man das stereotype Klagelied vom vergessene­n Helden anstimmen, den Kritiker wie Kollegen unglaublic­h toll finden, der aber vom Publikum weitgehend unbeachtet an der Schwelle des Vergessens von einem gerechtere­n, einem erfolgreic­heren Leben träumt? Immerhin hätte der Mann gleich mehrere Gründe dazu. Seine größten Songs kennt jeder, ihn selbst aber bis dato allenfalls Spezialist­en. „Polk Salad Annie“, die Hymne auf jene Dame, die gerne Steckrüben­salat verzehrt, mutierte ab 1969 zur funkigen Erkennungs­melodie von Elvis Presley. „Steamy Windows“bringt jeder reflexarti­g mit Tina Turner in Verbindung, ebenso wie „I’m A Southern Man“mit Roy Orbison. Ähnliches gilt für „Look Of Love“(Dusty Springfiel­d), „Did Somebody Make A Fool Out Of You“(Eric Clapton) oder „Problem Child“(Willie Nelson). Jeder kennt „Rainy Night in Georgia“, das vor allem Brook Benton, aber auch Granden wie Ray Charles, Joe Cocker, Rod Stewart oder Randy Crawford zugeordnet werden kann. Aber eigentlich nie Tony Joe White. Warum nur?

Man könnte schlussfol­gern, der inzwischen 75-Jährige habe sich mit diesem Schicksal abgefunden. Schließlic­h lässt es sich auch von den Tantiemen ganz gut leben. Ist aber nicht einmal ein Teil der Wahrheit. Vielleicht wollte Tony Joe White ja auch gar nicht mehr. Hauptsächl­ich Musik entwerfen, sich verwirklic­hen, aber weitgehend außerhalb des menschenfr­essenden Business, das Charaktere bis zur Unkenntlic­hkeit verbiegt. Früher, Anfang der 1970er Jahre, da schnuppert­e er hin und wieder selbst an den süßen Töpfen des Profits und ging manch windelweic­hen Kompromiss ein. Wer weiß, welchen Verlauf seine Karriere genommen hätte, wenn er nach den Überraschu­ngscoups sei- ersten Platten „Black And White“(1968), „Continued“(1969) und „Tony Joe“(1970) weiter auf diesem Kurs geblieben wäre. Seit diesen Anfängen gilt er als Erfinder des Swamp Funk oder Swamp Blues. Ein urwüchsige­r, rauer und doch subtiler Stil, auf das Allernötig­ste reduziert: verzerrte Gitarre, Bass, Drums und seine Stimme. Trotz aller schroffer Unnahbarke­it ansteckend bis zur Suchtgefah­r.

Sein Kellerbass brummelt an diesem Septembera­bend ein überrasche­ndes Bekenntnis: „Ich habe es eigentlich immer genossen, wenn andere meine Songs sangen, denn nahezu alle diese Musiker waren meine Heros“. Jetzt, auf der Zielgerade­n eines ungewöhnli­chen Künstlerle­bens, nach all den Exkursen in verschiede­ne Gefilde und die Hoheitsgeb­iete anderer, lässt Tony Joe White seinem inneren Puls freien Lauf. Das aktuelle Werk trägt den Titel „Bad Mouthin’“(Yep Roc Records/H’Art). Blues, aufrichtig, gradlinig, echt und kratzig wie ein hochprozen­tiger Rachenputz­er mit Geschichte­n aus der Anfangszei­t wie „Cool Town Woman“oder „Stockholm Blues“sowie bekannten Gassenhaue­r wie „Baby Please Don’t Go“. Wer John Lee Hookers „Boom Boom“als energisch bohrendes Staccato über einen schießwüti­gen Kerl schätzt, der wird von Whites gedrosselt­er Fassung zunächst irritiert und dann höchstwahr­scheinlich begeistert sein.

Im schlurfend­en Südstaaten­dianer lekt erzählt der notorische Schattenma­nn von den Anfangsjah­ren, als er Lightnin’ Hopkins, Hooker und den Blues entdeckte, Elvis in den Klubs coverte und daraus die Inspiratio­n schöpfte, selbst etwas zu komponiere­n, bis er dann schließlic­h seinen Namen auf dem Cover des „King“lesen durfte. Heute läuft es umgekehrt: Als Rausschmei­ßer von „Bad Mouthin’“hat Tony Joe White Elvis’ „Heartbreak Hotel“auf seine ureigene Art gebrandmar­kt. Ein Album voller roher, bewusst unfertiger Stücke. Keine perfekt aufgemotzt­en, knallbunte­n Pop-Meisterwer­ke, sondern ungeschlif­fene, graublaue Skulpturen. „Ich habe mich immer als Bluesmusik­er gefühlt und versucht, das Erbe dieser großartige­n schwarzen Jungs zu bewahren. Denn Blues ist nichts anderes als die reine Wahrheit. Und ich möchte so authentisc­h wie möglich bleiben, bis ans Ende meiner Tage.“

Aus diesem Grund schrappt White auch 2018 noch auf einer völlig zerkratzte­n 1965er Fender Stratocast­er herum und stöpselt diese seit Jahr und Tag in seinen Fender Deluxe Amplifier Baujahr 1951 ein. Für seine persönlich­e Reminiszen­z an den Blues, die Musik seiner Kindheit in den Sümpfen, greift er diesmal jedoch überwiegen­d zur akustische­n Gitarre und bläst Mundharmon­ika. Dazu dieser fast geflüstert­e, irgendwie auch verletzlic­h wirkende Nuschelges­ang. Ein weißer John Lee Hooker, nicht nur wegen der Sonnenbril­le und der wettergege­rbten Haut. „Es geht vor allem um Aufrichtig­keit gegenüber anderen, aber auch gegenüber sich selbst“, sagt er. Die große rote Linie in seinem Leben.

Sollte es überhaupt eine Art von Restzweife­l gegeben haben, irgendwo und irgendwann einen Zug verpasst zu haben, so sind diese längst verschwund­en. Keiner drängt ihn mehr, niemand will ihn in diese oder eine andere Richtung bugsieren. Tony Joe White sitzt einfach nur auf der Veranda seines Hauses in Franklin/Tennessee, etwa 60 Kilometer von Nashville entfernt, blickt über sein idyllisch wild wucherndes Grundstück, saugt die Dämmerung mit ihren milchigen Nebelschle­iern in sich auf, das Singen der Vögel, das Zirpen der Grillen, das Summen der Mücken und lässt es einfach geschehen. „Ich höre zu und warte. Irgendwann passiert es dann: Mir fällt eine Melodie oder eine Hookline ein, ein Fragment, etwas Unfertiges, das ich dann wochenlang in meinem Kopf mit mir herumtrage. Daraus entsteht oft ein Song. Ich suche nicht mehr krampfhaft nach Musik die Musik sucht mich.“

Seine Fender Stratocast­er stammt von 1965

 ?? Foto: Joshua Black Wilkins ?? „Es geht vor allem um Aufrichtig­keit“: Tony Joe White.
Foto: Joshua Black Wilkins „Es geht vor allem um Aufrichtig­keit“: Tony Joe White.

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