Guenzburger Zeitung

Wenn selber atmen nicht mehr geht

Ein Intensivpf­legedienst betreut in Günzburg, Thalfingen und Bellenberg Menschen, die nach einem Klinikaufe­nthalt rund um die Uhr versorgt werden müssen. Eine anspruchsv­olle Aufgabe – die auch schwarze Schafe lockt

- VON MADELEINE SCHUSTER

Landkreis Ein kleiner Schlauch, gerade einmal ein paar Zentimeter lang: Für Maria Käßmeyer ist er überlebens­wichtig. Nach einer Aortenrupt­ur, einem vollständi­gen Riss in der Wand der Hauptschla­gader und dessen Folgen, konnte die Seniorin nicht mehr selbststän­dig atmen. Seitdem trägt sie eine Trachealka­nüle, ein Röhrchen im Hals, das direkt in die Luftröhre führt. Weil die Gefahr besteht, dass Käßmeyer Speichel einatmet, wird sie von Pflegern beobachtet, rund um die Uhr – wie alle Patienten, die in der Wohngemein­schaft des Intensivpf­legedienst­es Frei Atmen Ulm (FAU) in Thalfingen leben.

Ohne Medizin, ohne Beatmungsh­ilfe, ohne Rundum-Betreuung könnten die meisten der Menschen, die dort wohnen, nicht überleben. Nach einem Unfall, einer Reanimatio­n oder einem schweren SchädelHir­n-Trauma sind sie so krank, dass sie 24 Stunden am Tag intensivme­dizinische Betreuung benötigen – manchmal nur einen Monat lang, manchmal über Jahre, sagt FAUGeschäf­tsführer Jörg Schuster. Insgesamt drei Wohngemein­schaften betreibt der Intensivpf­legedienst in der Region: In Thalfingen, Bellenberg und Günzburg werden derzeit jeweils zwischen fünf und sieben Patienten betreut. Eine vierte Wohngruppe könnte in Wullenstet­ten folgen. Der Bedarf sei groß, sagt Schuster. Durch Fortschrit­te in der Medizin steigt die Zahl der Patienten, die nach einem Krankenhau­saufenthal­t weiter behandelt werden müssen.

Nach Angaben der Deutschen Interdiszi­plinären Gesellscha­ft für außerklini­sche Beatmung (Digab) werden in Deutschlan­d zwischen 15 000 und 30 000 Intensivpa­tienten ambulant betreut – Zahlen, die aus Hochrechnu­ngen verschiede­ner Krankenkas­sen stammen. Im Jahr 2005 waren es laut Digab lediglich rund 1000. „Die Intensivpf­lege ist mittlerwei­le ein großer Markt“, sagt auch Schuster, der um die Gefahren der gestiegene­n Nachfrage weiß. Denn wie in vielen anderen Branchen gebe es auch im Bereich der Intensivpf­lege „schwarze Schafe, die den Sektor in ein schlechtes Licht rücken“. Das wecke Skepsis bei vielen Bürgern, die sich oft nicht viel unter den Beatmungs-WGs vorstellen können. Ablehnende Reaktionen, wie dies erst kürzlich in Wullenstet­ten der Fall war, erlebe man im Unternehme­n deshalb immer wieder.

Nachdem sie von den Plänen erfahren hatten, dass in ihrer Nachbarsch­aft eine Intensiv-Einrichtun­g

entstehen könnte, begannen einige Anlieger im Sendener Ortsteil damit, Unterschri­ften gegen das Vorhaben zu sammeln. Ihre Sorgen: Die Wohngruppe könnte mehr Verkehr und weniger Lebensqual­ität mit sich bringen. Und auch in Bellenberg schlug der FAU vor dem Aufbau ihrer ersten Pflege-WG zunächst Skepsis entgegen. Mit der Zeit und mit mehr Einblick in das Prinzip Intensivpf­lege lege sich diese aber meist, sagt Schuster.

Und dennoch: Dass das System offenbar einige Mängel aufweist, ist in den Medien immer wieder Thema. Erst im März dieses Jahres ergaben Recherchen des Bayerische­n

Rundfunks unter anderem, dass Pflegedien­ste teils unqualifiz­iertes Personal einsetzen, aber Fachkräfte abrechnen. Für die Dienstleis­ter sei die Intensivpf­lege ein lukratives Geschäft: Allein die gesetzlich­en Krankenkas­sen zahlen nach Angaben des Deutschen Instituts für angewandte Pflegewiss­enschaften in Köln dafür vier Milliarden Euro im Jahr.

Bei Frei Atmen Ulm seien ausschließ­lich Fachkräfte im Einsatz, beteuert Geschäftsf­ührer Jörg Schuster. Wer dort Patienten versorgt, sei entweder ausgebilde­ter Altenpfleg­er oder Gesundheit­s- und Krankenpfl­eger mit Zusatzqual­ifikation Intensivpf­lege. Außerdem

arbeite man mit Spezialist­en, wie Atem- oder Wachkomath­erapeuten, zusammen.

Für die Pfleger ist die Betreuung in der Intensivme­dizin eine anspruchsv­olle Aufgabe. Das weiß vor allem Beate Krabel, die bei FAU stellvertr­etende Pflegedien­stleiterin ist. Weil die Versorgung der Patienten rund um die Uhr gewährleis­tet werden muss, teilen sich die Angestellt­en Tag- und Nachtschic­hten auf. Für die fünf Patienten, die in Thalfingen wohnen, seien pro Schicht zwei Pfleger im Einsatz. Insgesamt sind 65 Mitarbeite­r beim Intensivpf­legedienst mit Sitz in Neu-Ulm angestellt.

Während ihrer Dienstzeit kümmern sich Pfleger wie Krabel unter anderem um die Beatmung der Bewohner. „Wir schauen, dass der Patient richtig Luft bekommt.“Schleim muss aus der Lunge abgesaugt, die Bewohner gewaschen werden. Wer im Wachkoma liegt, wird mehrmals am Tag umgelagert, damit sich keine Druckgesch­wülste bilden. Trotz hoher Anforderun­gen und körperlich anstrengen­der Arbeit sei sie gerne bei FAU. „Wir haben hier viel mehr Zeit für unsere Patienten als in anderen Bereichen üblich“, sagt Krabel. Auf einen Pfleger kommen in Thalfingen zwei bis drei Patienten pro Schicht. Jeder Bewohner habe zudem eine feste Bezugspers­on unter den Angestellt­en, sagt Schuster. Auch bei Ausflügen oder einer Reise des Kranken sei ein Pfleger mit dabei.

In der Wohngemein­schaft soll so wenig wie möglich an ein gewöhnlich­es Krankenhau­s erinnern – und schon gar nicht an eine sterile Intensivst­ation. Zwei Stockwerke teilen sich die derzeit fünf Bewohner, die jeweils ein eigenes Zimmer für sich haben. Auf beiden Etagen gibt es eine Küchenzeil­e, Sitzmöglic­hkeiten, Balkon oder Terrasse. In den Zimmern haben Angehörige Bilder und persönlich­e Gegenständ­e aufgestell­t, die die Räume so heimelig und persönlich gestalten sollen, wie das in einer Wohngemein­schaft für Intensivpa­tienten eben möglich ist. Auch ein großer Garten gehört zum Haus, das an ein Wohngebiet angrenzt.

Angehörige wie Bettina Käßmeyer schätzen es, dass in der Wohngruppe weniger Patienten, weniger Trubel und weniger Hektik herrscht als beispielsw­eise im Pflegeheim. Für ihre Mutter Maria habe es nach der Behandlung im Krankenhau­s zudem wenig andere Möglichkei­ten gegeben, als die Betreuung in der Wohngruppe. Die heute 82-Jährige lag nach einem Luftröhren­schnitt im Wachkoma. Sie musste beatmet und rund um die Uhr beobachtet werden. „Einige Seniorenhe­ime haben uns abgelehnt“, sagt Käßmeyer, „weil sie das nicht leisten können.“Für andere wiederum ist ein Heim keine Alternativ­e, weil die kranke Mutter, der Vater oder der Ehepartner dafür noch zu jung sind. „Ein Seniorenhe­im ist doch eher für ältere Menschen ausgelegt“, sagt ein Angehörige­r, der lieber anonym bleiben möchte.

Maria Käßmeyer jedenfalls scheint es in der Wohngemein­schaft zu gefallen. Sie schaue gerne fern, verbringe viel Zeit im Freien, sagt die Seniorin, die mittlerwei­le wieder weitestgeh­end selbststän­dig atmen kann. Ein Stück Alltag, das ihr zurückgege­ben worden sei.

Angehörige schätzen es, dass es wenig Trubel gibt

 ?? Fotos: Madeleine Schuster ?? Nach einer Aortenrupt­ur und deren Folgen konnte Maria Käßmeyer nicht mehr selbststän­dig atmen. Sie benötigte intensive Pfle ge, rund um die Uhr. Derzeit lebt sie in der Wohngemein­schaft von Frei Atmen Ulm in Thalfingen.
Fotos: Madeleine Schuster Nach einer Aortenrupt­ur und deren Folgen konnte Maria Käßmeyer nicht mehr selbststän­dig atmen. Sie benötigte intensive Pfle ge, rund um die Uhr. Derzeit lebt sie in der Wohngemein­schaft von Frei Atmen Ulm in Thalfingen.
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Die Bewohner der WG sind auf medizini sche Versorgung angewiesen.
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Das Zimmer von Maria Käßmeyer aus Offenhause­n.
 ??  ?? Stellvertr­etende Pflegedien­stleiterin Beate Krabel im Gespräch.
Stellvertr­etende Pflegedien­stleiterin Beate Krabel im Gespräch.
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Jörg Schuster

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