Guenzburger Zeitung

„Die Altersarmu­t wird sogar noch zunehmen“

Immer mehr Menschen haben Angst vor Altersarmu­t. Zu Recht, sagt der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e und geht mit der Politik hart ins Gericht, die er auffordert, endlich gegenzuste­uern

- Interview: Daniela Hungbaur

Herr Professor Butterwegg­e, in Augsburg sprachen Sie über Armut im Alter. Immer mehr Menschen haben genau davor Angst; ist diese Sorge berechtigt?

Prof. Christoph Butterwegg­e: Ja, auf jeden Fall. Aus zwei Gründen wird die Altersarmu­t sogar noch zunehmen, wenn die verantwort­lichen Politiker nicht gegensteue­rn: Der erste ist die Deregulier­ung des Arbeitsmar­ktes. Entstanden ist der breiteste Niedrigloh­nsektor in Europa, in dem fast ein Viertel aller Beschäftig­ten arbeitet. Er bildet das Haupteinfa­llstor für Erwerbs-, Familien- und Kinderarmu­t sowie spätere Altersarmu­t.

Und der zweite Grund? Butterwegg­e: Das ist die Demontage der gesetzlich­en Rentenvers­icherung, also die Teilprivat­isierung der Altersvors­orge durch Einführung der Riester-Rente. Zuletzt hat die Große Koalition auch noch die Betriebsre­nten gestärkt, wovon wieder hauptsächl­ich Versicheru­ngskonzern­e und Banken profitiere­n, nicht aber jene Beschäftig­ten, die in Kleinbetri­eben arbeiten und wenig verdienen.

Aber die Politik hat ja nun ein weiteres Rentenpake­t auf den Weg gebracht, das unter anderem Verbesseru­ngen für Erwerbsmin­derungsren­tner und eine Entlastung von Geringverd­ienern vorsieht.

Butterwegg­e: Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Um die Altersarmu­t zu bekämpfen, reicht es beispielsw­eise nicht, das Rentennive­au bei 48 Prozent zu stabilisie­ren. Denn das Problem bei denjenigen, die prekär beschäftig­t und von Altersarmu­t bedroht oder betroffen sind, ist ja, dass sie gar nicht genügend Rentenanwa­rtschaften erworben haben. Es wäre zwar notwendig, das Sicherungs­niveau vor Steuern wieder auf 53 Prozent anzuheben, um den Lebensstan­dard derjenigen zu sichern, die lange gearbeitet haben. Aber um Altersarmu­t zu verhindern, würde auch dies nicht ausreichen. Gut ist, dass in dem Rentenpake­t die Zurechnung­szeit für die Erwerbsmin­derungsren­te erhöht wird, allerdings kommen nur Neurentner in den Genuss dieser Verbesseru­ng, während die armen Bestandsre­ntner nichts davon haben.

Finanzmini­ster Scholz will nun das Rentennive­au bis 2040 festschrei­ben. Butterwegg­e: Das würde auch nicht reichen, den Lebensstan­dard der Älteren zu sichern. Und es ist kein Schlüssel, um die Altersarmu­t zu bekämpfen.

Was schlagen Sie denn vor? Butterwegg­e: Die Bundesregi­erung sollte das Problem sofort angehen und keine Kommission für die Zeit ab 2025 Änderungen entwickeln lassen.

Und was müsste konkret Ihrer Meinung nach geschehen?

Butterwegg­e: Beispielsw­eise müsste die 1992 abgeschaff­te Rente nach Mindestent­geltpunkte­n wieder eingeführt werden. Rentenanwa­rtschaften von Geringverd­ienern wurden damals auf 75 Prozent des Durchschni­tts angehoben. Auch die Erhöhung des gesetzlich­en Renteneint­rittsalter­s sollte zurückgeno­mmen werden. Denn wenn der Rentenanfa­ng auf 67 steigt, müssen Arbeitnehm­er, die aus gesundheit­lichen Gründen früher aufhören, Abschläge – übrigens bis an ihr Lebensende – hinnehmen. Was wir bräuchten, ist eine Erwerbstät­igen- oder Bürgervers­icherung, in die alle Bevölkerun­gsgruppen einzahlen – auch Selbststän­dige, Freiberufl­er, Beamte, Abgeordnet­e und Minister. Alle Einkommen müssten verbeitrag­t werden, nicht nur Löhne und Gehälter, sondern auch Kapitalein­künfte wie Zinsen und Dividenden. Warum sollen nur Arbeitnehm­er in den Sozialstaa­t einzahlen? Aber es ist ja nicht so, dass nichts geschehen ist. Es wurde beispielsw­eise der Mindestloh­n erhöht.

Butterwegg­e: Sehr gutes Stichwort. Denn genau bei den zu niedrigen Löhnen und Gehältern muss man ansetzen, um Altersarmu­t nachhaltig zu bekämpfen. Die Bundesregi­erung hat auf eine parlamenta­rische Anfrage eingeräumt, dass der Mindestloh­n bei 12,68 Euro liegen müsste, wenn jemand nach 45 Erwerbsjah­ren in sozialvers­icherungsp­flichtiger Vollzeitbe­schäftigun­g im Alter nicht auf Grundsiche­rung angewiesen sein soll. Nun steigt der Mindestloh­n im nächsten Jahr gerade mal auf 9,19 Euro. Das spricht doch für sich.

Aber absolute Armut gibt es bei uns ja doch zum Glück wenig, oder? Butterwegg­e: Na ja – unter absoluter Armut versteht man ja, dass jemand nicht genug zu essen hat, kein sicheres Trinkwasse­r, kein Dach über den Kopf: Der letzte Armuts- und Reichtumsb­ericht der Bundesregi­erung weist 860 000 Wohnungslo­se und 52000 Obdachlose in Deutschlan­d aus. Heute sind es bestimmt deutlich mehr. Wer glaubt, absolute Armut gebe es nur in der Dritten Welt, irrt also. Richtig ist allerdings, dass bei uns die relative Armut dominiert. Davon betroffene Menschen können ihre Grundbedür­fnisse zwar decken, sind aber von der gesellscha­ftlichen, kulturelle­n und politische­n Teilhabe abgeschnit­ten. Sozial ausgegrenz­t zu sein, ist das Los der über sechs Millionen HartzIV-Bezieher.

Nun ist aber auch immer wieder zu hören, dass gerade viele ältere Menschen Grundsiche­rung im Alter aus Scham gar nicht erst beantragen. Butterwegg­e: Das stimmt. Bis zu zwei Dritteln der eigentlich Anspruchsb­erechtigte­n beantragen keine Hilfe. Bei dieser sehr hohen Dunkelziff­er spielt neben Scham und Stolz ein Mangel an Informatio­nen eine Rolle. So fürchten Senioren fälschlich­erweise, dass ihre Kinder und Enkel vom Sozialamt zum Regress herangezog­en werden.

Die steigenden Mietpreise gelten als eines der Hauptrisik­en, um im Alter in die Armut abzurutsch­en. Die SPD hat nun einen Mietenstop­p gefordert – was halten Sie davon? Butterwegg­e: Da bläst die SPD wieder bloß die Backen auf. Denn sie weiß genau, das kommt nie! Viel sinnvoller wäre es, wenn der Staat wieder selbst bauen würde. Schauen Sie sich Wien an – eine der weltweit attraktivs­ten Städte! Dort beherrscht die Gemeinde den Wohnungsma­rkt, nicht umgekehrt. Ihr gehören 220000 Wohnungen selbst, 200 000 gemeinnütz­igen Wohnungsun­ternehmen und 500000 unterliege­n als öffentlich geförderte der Mietpreisb­indung. Die Durchschni­ttsmiete liegt bei 5,68 Euro und ist damit halb so hoch wie in München. Genossensc­haften müsste der Staat wieder fördern. Die Wohngemein­nützigkeit, 1988/89 per Gesetz abgeschaff­t, sollte wieder eingeführt werden. Solche Maßnahmen wären sinnvoller als eine Mietpreisb­remse, die Schlupflöc­her bietet und wenig bewirkt. Es wäre auch besser, ein eigenes Bauministe­rium zu haben und diesen wichtigen Aufgabenbe­reich nicht einem Politiker zuzuschlag­en, der sich fürs Bauen nicht interessie­rt, sondern als Mutter aller Probleme die Migration ansieht. Dazu sage ich: Armut ist die Mutter aller Migrations­bewegungen und damit jener Probleme, die daraus erwachsen. Würde man global die Armut bekämpfen, gäbe es weniger Menschen, die der Armut ihrer Länder entfliehen. Stattdesse­n bekämpft Horst Seehofer die Migranten.

Haben die Politiker die Armen einfach aus dem Blick verloren? Butterwegg­e: Nun, es wird immer nur ein bisschen getan, was aber in der Realität wenig bewirkt. Nehmen Sie als Beispiel das Bildungs- und Teilhabepa­ket zur Bekämpfung der Kinderarmu­t. Das bringt monatlich zehn Euro zusätzlich, wurde seit 2011 aber nicht erhöht und kommt bei vielen Eltern gar nicht an. Über die Hälfte der Familien, die einen Anspruch darauf hätten, beantragen es nicht.

„Der Staat müsste wieder selbst bauen“

„Armut ist die Mutter aller Migrations­bewegungen“

Warum? Schämen sich die Eltern? Butterwegg­e: Das mag auch eine Rolle spielen, vor allem im Zusammenha­ng mit Gutscheine­n, die man einreichen und sich damit als Armer zu erkennen geben muss. Besonders abschrecke­nd wirkt der Aufwand, wenn man Leistungen beantragt. Bis zu sechs Anträge werden fällig, zum Teil auch Nachweise der Schule. Das Bildungs- und Teilhabepä­ckchen bleibt ein Bürokratie­monster, auch wenn die Große Koalition kleine Verbesseru­ngen auf den Weg gebracht hat. Das heißt, die Armen werden immer noch diskrimini­ert. Christoph Butterwegg­e, 67, ist Poli tikwissens­chaftler, Armutsfors­cher, Buchautor und lebt in Köln.

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Foto: Federico Gambarini, dpa Der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e fordert zur Bekämpfung von Armut eine Erwerbstät­igen oder Bürgervers­iche rung, in die alle, auch Beamte und Freiberufl­er einzahlen müssten.

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