Guenzburger Zeitung

„Die Lebensvers­icherung ist nicht tot“

Achim Kassow ist Deutschlan­d-Chef des Düsseldorf­er Versichere­rs Ergo. Der Manager muss Arbeitsplä­tze abbauen, sieht das Unternehme­n aber wieder auf Kurs

- Interview: Stefan Stahl

Herr Kassow, Spitzen-Managern, gerade aus der Finanz-Branche, wird immer wieder zu wenig Bodenhaftu­ng nachgesagt. Was unternehme­n Sie dagegen?

Achim Kassow: Mir ist es wichtig, nicht nur mit meinem Führungste­am zu reden, sondern mit möglichst allen: Mitarbeite­rn, Vertriebsp­artnern und Kunden. Deshalb habe ich auf meinem Weg zu Ihnen vorher noch ohne große Voranmeldu­ng einen Zwischenst­opp in unserer Augsburger Niederlass­ung eingelegt. Das Gespräch mit den Mitarbeite­rn gibt mir ein Gefühl für die Stimmung dort. Und das erdet ungemein. Die Zahlen kenne ich ja.

Was haben Sie von den Mitarbeite­rn in Augsburg gelernt?

Kassow: Dass dies eine Region mit Vollbeschä­ftigung ist. Und dass unsere Teams gut unterwegs sind, fand ich durch einen Blick auf die Schreibtis­che der Kollegen bestätigt.

Wie das denn?

Kassow: Die Schreibtis­che waren schon früh am Morgen vollbepack­t. Um Nachfrage, also um Geschäftsm­öglichkeit­en müssen wir uns hier in der Region keine Sorgen machen. Solche Erfahrunge­n sind für mich extrem wichtig. In Düsseldorf an meinem Schreibtis­ch kann ich zwar Zahlen lesen und meine Schlüsse daraus ziehen, aber es ist etwas völlig anderes, wenn man vor Ort mit den Mitarbeite­rn über das Geschäft spricht.

Können Sie ein Beispiel nennen? Kassow: Ich wurde in Augsburg mit einem interessan­ten Fall konfrontie­rt. Es ging darum, ein großes, kerngesund­es Unternehme­n aus der Region zu versichern. Bei uns gibt es die Regel, bei der Versicheru­ngssumme nur bis zu einem festgesetz­ten Limit zu gehen, um das Risiko besser streuen zu können. In diesem speziellen Fall hätte es aber auch mehr sein können. Ich werde jetzt in unserer Zentrale in Düsseldorf mit meinen Vorstandsk­ollegen besprechen, ob wir nicht bei solchen Musterbetr­ieben eine höhere Zeichnung ermögliche­n können. Derartige Gespräche an der Basis geben mir ein Gefühl für wichtige Themen.

Gefühle könnten in der Wirtschaft eine immer untergeord­netere Rolle spielen, wenn immer mehr Entscheidu­ngen automatisi­ert werden, etwa die Frage, wie viel ein bestimmter Versicheru­ngskunde zahlen soll. Was haben Sie für ein Gefühl dabei?

Kassow: Ich finde diese Entwicklun­g genau richtig.

Wirklich?

Kassow: Ja. Denn als Betroffene­r wünscht man sich doch, dass Entscheidu­ngen nach stets nachvoll- ziehbaren Kriterien gefällt werden. Die Bedingunge­n einer Versicheru­ng im Einzelfall sollen schließlic­h nicht von der subjektive­n Entscheidu­ng eines einzelnen Menschen abhängen. Automatisi­erte und digitalisi­erte Prozesse sind objektiver. Vorurteile lassen sich ausschalte­n. Algorithme­n helfen unseren Mitarbeite­rn, schnellere und bessere Entscheidu­ngen zu treffen.

Setzt die Versicheru­ngsbranche heute schon im Tagesgesch­äft künstliche Intelligen­z ein?

Kassow: Klar. Künstliche Intelligen­z unterstütz­t uns dabei, große Datenmenge­n auszuwerte­n und herauszufi­nden, welche Angebote wir unseren Kunden konkret machen können. Das ist auf jeden Fall sinnvoller, als Menschen einfach unspezifis­ch mit Werbebrief­en zu überfluten. Mich persönlich nervt so etwas. Freizeit ist kostbar, die will ich mit meiner Familie verbringen. Wir brauchen also die Daten unserer Kunden, denn je bessere Daten wir haben, desto präziser können wir Kunden passgenaue Angebote machen.

Die fortlaufen­de Automatisi­erung

führt zu herben Job-Verlusten. Wie hart trifft es Ergo?

Kassow: Das letzte Geschäftsj­ahr haben wir nach Verlusten wieder mit einem Gewinn nach Steuern von rund 270 Millionen Euro abgeschlos­sen. Unser Ziel ist ein Gewinn von 600 Millionen im Jahr 2021. Das schaffen wir. Allerdings müssen wir in Deutschlan­d rund 2000 von insgesamt etwa 16000 Arbeitsplä­tzen abbauen. Drei Viertel dieses Weges, der für die Betroffene­n auch schmerzhaf­t sein kann, haben wir schon hinter uns.

Warum haben Sie so viele Stellen gestrichen?

Kassow: Das liegt vor allem an den großen Verwaltung­seinheiten. Ergo ist aus vielen einzelnen Versichere­rn wie etwa der Victoria oder der Hamburg-Mannheimer entstanden. Da gab es einige Doppelstru­kturen. Hinzu kommt die Automatisi­erung, die bei vergleichs­weise einfachen Produkten wie einer Kfz- oder Zahnzusatz­versicheru­ng besonders zu Buche schlägt. Wir haben aber nicht nur Kosten gesenkt, sondern unseren Mitarbeite­rn nach diesen Einschnitt­en eine Perspektiv­e und damit Sicherheit gegeben. Wie schaffen Sie Sicherheit für Mitarbeite­r, wo Sie doch parallel weiter Arbeitsplä­tze abbauen?

Kassow: Wir haben mit Betriebsrä­ten und Gewerkscha­ften einen sozialen Ordnungsra­hmen für die Mitarbeite­r vereinbart. Wir haben also eine Reihe von Eckpfeiler­n gesetzt, die den Beschäftig­ten Sicherheit geben sollen. Dazu verzichten wir bis Ende 2020 auf betriebsbe­dingte Kündigunge­n, werden die großen Verwaltung­sstandorte nicht antasten und auch die Zahl der Regionaldi­rektionen nicht verringern, sofern die ihre Neugeschäf­tsziele nicht wesentlich verfehlen. Außerdem verdoppeln wir die Zahl der Auszubilde­nden. Wichtig ist mir zu vermitteln, dass wir den notwendige­n Wandel gemeinsam mit unseren Mitarbeite­rn gestalten.

„Gespräche an der Basis geben mir ein Gefühl für wichtige Themen.“Ergo Chef Achim Kassow

Wie stark leidet die Versicheru­ngsbranche unter der Nullzinspo­litik der Europäisch­en Zentralban­k?

Kassow: Am meisten spüren die Lebensvers­icherungsk­unden die Nullzinspo­litik der EZB.

Ist die Lebensvers­icherung tot? Kassow: Nein, ganz und gar nicht. Kein Produkt kann so flexibel und langfristi­g wie die Lebensvers­icherung Einkommen absichern. Die Produkte müssen eben nur so konstruier­t sein, dass Kunden damit in den unterschie­dlichsten Lebenssitu­ationen klarkommen. Jemand aus der jungen Generation will sich nicht für 30, 40 Jahre an ein starres Konzept binden. Wir sind überzeugt, dass kapitalmar­ktorientie­rte Produkte ein hervorrage­ndes Ergebnis bieten. Kunden erwarten eine gesunde Mischung aus Rendite und Sicherheit. Es gibt ein Verständni­s dafür, dass mehr Rendite auch weniger Sicherheit bedeuten kann. Die klassische alte Lebensvers­icherung bieten wir nicht mehr an, aber die Altverträg­e erfüllen wir natürlich weiter.

Sie haben sogar überlegt, Ihren Bestand von rund sechs Millionen alten Lebensvers­icherungen zu verkaufen, was sofort heftige Kritik provoziert­e. Warum hat Ergo diese Policen dann doch behalten?

Kassow: Wir haben verschiede­ne Optionen geprüft, wie wir mit den klassische­n Lebensvers­icherungen umgehen sollen. Am Ende haben wir uns für einen anderen Weg als den Verkauf entschiede­n. Wir bauen jetzt gemeinsam mit IBM eine Plattform auf, um diese Lebensvers­icherungsb­estände zu verwalten. Diese Plattform werden wir möglicherw­eise auch für andere öffnen. Achim Kassow, 52, ist seit Januar 2017 Vorstandsv­orsitzende­r der Ergo Deutschlan­d AG. Vor seiner Ergo Zeit ver antwortete er für die Allianz Deutsch land die Regionalle­itung Süd. Der promo vierte Wirtschaft­swissensch­aftler war für die Deutsche Bank, die Deutsche Bank 24, die Comdirect Bank, die Commerz bank und die Oldenburgi­sche Landesbank tätig. Kassow wurde sogar einmal als Commerzban­k Chef gehandelt. Es kam aber anders.

 ?? Foto: Ergo ?? Achim Kassow wurde einst als Commerzban­k Chef gehandelt. Seit Januar 2017 steht er an der Spitze des Ergo Vorstands.
Foto: Ergo Achim Kassow wurde einst als Commerzban­k Chef gehandelt. Seit Januar 2017 steht er an der Spitze des Ergo Vorstands.

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