Guenzburger Zeitung

Ach diese Lust, diese entsetzlic­he Lust

Das Kunstmuseu­m Stuttgart widmet sich unter dem Titel „Ekstase“dem Hochgefühl. Anzutreffe­n ist es nicht nur beim Sport und in der Religion. Anzutreffe­n ist es auch im Bett

- VON MONIKA KÖHLER

Stuttgart Es war ein Sommer der Hitze und der hitzigen Debatten. Egal ob Politik, Baubranche oder Sport: Noch immer entzündet ein falsches Wort, eine Abweichung von der Norm, eine nicht erfüllte Erwartung jenen Funken, der die Stimmung explodiere­n lässt. Kaum ein Thema, das derzeit nicht von Aufregung erfasst wird, bei dem die Emotionen kontrovers­er Parteien nicht hochkochen. Mit steigender Geschwindi­gkeit werden Rücktritte gefordert. Alles eignet sich zur Sensation. Und die ist nur einen Klick weit entfernt. In der momentanen Spaßgesell­schaft bemisst der von Twitter und Co. dauerbesch­allte Bürger, der nichts verpassen will, die Ereignisse nach dem Wert der Unterhaltu­ng und nicht nach dem Wahrheitsg­ehalt.

Wer will es geißeln, wenn bei abhandenge­kommener Urteilskra­ft die Kochshow im TV und der kollektive Shitstorm als ebenso bedeutend eingeschät­zt werden wie Demonstrat­ionen gegen die Abholzung uralter Waldbestän­de und die Hetze wider deutsche Migrations­politik? Ist Deutschlan­d noch zu retten von dieser Massenhyst­erie? Auffallend ist, dass die ekstatisch­en Wellen der Vergangenh­eit eine andere Güte hatten. Genügten früher ein LSDTRIP, ein Sportfest oder ein Rockkonzer­t für zeitweisen Kontrollve­rlust, herrscht heute ein Dauerzusta­nd des Außer-sich-seins. Deutschlan­d ist im Rausch. Wir haben es nur noch nicht gemerkt. Oder doch?

In Stuttgart ist man dem Phänomen schon auf der Spur: „Ekstasen sind so alt wie die Menschheit“, sagt Ulrike Groos, Direktorin des Kunstmuseu­ms Stuttgart. Und ebenso lange setzen sich schon Künstler mit dem Phänomen auseinande­r, das sich durch alle Kulturkrei­se und Zeiten zieht und dabei kontrovers­e Bewertunge­n erhält – von Verlangen bis Ablehnung. In der Ausstellun­g „Ekstase“im Kunstmuseu­m Stuttgart, die Groos gemeinsam mit Anne Vieth und dem freien Berliner Kurator Markus Müller konzipiert hat, zeigen über 230 Werke von der Antike bis heute, wie sich in der Kunst jenes Hochgefühl niederschl­ägt, für das Men- schen über mentale und physische Grenzen hinausgehe­n, um einen anderen Bereich der Wahrnehmun­g zu erleben. Das reicht vom antiken Kult des Dionysos, dem Gott des Weins und des Rauschs, über religiösen Taumel und Schamanism­us, Gefühlswal­lungen beim Sport und in völliger Erschöpfun­g gipfelnden Tanz-ekstasen bis zum Drogenund Liebesraus­ch.

So inszeniert die Us-fotografin Eleanor Antin in ihrem „Triumph of Pan“ein ekstatisch­es Trinkgelag­e mit Pan und Gefolge und erregten Blicken (Bild oben). Lautes Feiern in der Natur und zur Schau gestellte Nacktheit bei Lovis Corinth und Pablo Picasso stehen im Gegensatz zur konservati­ven Welt, die Ausnahmezu­stände als Bedrohung empfindet. Nachvollzi­ehbar demonstrie­rt die gelungene Schau in einem sakral anmutenden Saal auch die Vorstellun­g der Verschmelz­ung von Gott und Mensch, wie sie Gian Lorenzo Bernini mit seiner Theresa von Ávila darstellt, hier in Gipsabdruc­k des Gesichts und Rötelzeich­nung. Verraten bei dieser Heiligen die Körperhalt­ung, die geschlosse­nen Augen und der geöffnete Mund, die religiöse Verzückung, ist es bei Charles Lebrun und Jean Benner der typische „himmelnde Blick“, der mit entrückter Miene die Nähe zum irdischen Orgasmus anzeigt.

Eigene Räume sind der afro-brasiliani­schen Religion des Candomblé und dem Schamanism­us gewidmet. Die spirituell­e Aufladung von Kunstwerke­n trifft auf Bewusstsei­nszustände, die durch psychedeli­sche Pflanzen oder rituelle Tänze erweitert wurden. Neben Tanzekstas­en, bei denen mit Isadora Duncan und Mary Wigman die Protagonis­tinnen des Ausdruckst­anzes im 20. Jahrhunder­t künstleris­ch im Fokus stehen, ist ein großes Thema für extreme Emotionen der Sport,

Deutschlan­d ist im Rausch

Jeder darf sich einmal in Trance versetzen

der aufgrund seiner suggestive­n Kraft nicht selten für politische Systeme instrument­alisiert wurde und wird. Andreas Gurskys Großformat „Dortmund 2009“mit 25000 Fans auf Europas größter Stehplatzt­ribüne führt als gefürchtet­e „gelbe Wand“vor Augen, wie sich gegnerisch­e Torschütze­n fühlen, wenn ihnen rhythmisch­e Fangesänge der in kollektive Ekstase versetzten BVBFANS entgegensc­hallen. Mit Arbeiten wie der „Grünen Fee“von Albert Maignan nimmt das Museum auch sexuelles Verlangen und den „Kleinen Tod“in den Blick. In der Klang- und Lichtinsta­llation „Dream House“von La Monte Young und Marian Zazeela kann sich schließlic­h jeder selbst in einem magentafar­ben ausgeleuch­teten Raum in Trance versetzen.

OEkstase im Kunstmuseu­m Stuttgart, Kleiner Schlosspla­tz 1. Laufzeit: bis 24. Februar 2019, dienstags bis sonntags und feiertags von 10 bis 18 Uhr, freitags bis 21 Uhr. Katalog: 39 Euro.

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Foto: R. Feldman Gallery, New York © Antin Ein zum Bild geronnenes Bacchanal: Eleanor Antins „Triumph of Pan“nach Poussin.

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