Liebe in der Todeszone
Worpswede in Japan? Ein Künstlerroman
Das ist kaum zu glauben. Da gibt es den Bürgermeister der japanischen Gemeinde Yoneuchi, der einen deutschen Schriftsteller zur Gründung einer Künstlerkolonie einlädt, quasi nach dem Muster von Worpswede. Das Tollkühne daran: Der einst von 6000 Menschen bewohnte Ort ist strahlenverseucht und unbewohnbar. Das Dorf liegt knapp 40 Kilometer entfernt von Fukushima. Die dortige Atomreaktor-katastrophe vom März 2011 hat ein erhebliches Quantum an radioaktivem Staub über Yoneuchi abgeladen .
Es ist der reine Irrwitz, dass besagte Einladung tatsächlich erfolgt ist – an den Schweizer Autor Adolf Muschg. Realiter hat sich das Ansinnen schnell erledigt, doch in seinem Roman „Heimkehr nach Fukushima“hält der 84-jährige Autor die japanischen Hoffnungen auf Wiederansiedlungen durchaus am Leben.
Adolf Muschg verbindet ein enges Band mit Japan. Er ist mit einer Japanerin verheiratet, der Sohn wurde in Tokio geboren. Auch im Frühjahr 2011, wenige Wochen nach dem GAU, war Muschg in Japan, wenn auch in vermeintlich sicherem Abstand zu Fukushima.
Im Roman bricht der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus (62) am 21. April 2017 nach Tokio auf. Die mit ihm bekannte Mitsu (37) wird ihn durch das verstrahlte Gelände führen. Das gleicht einem möglicherweise tödlichen Grenzgang. Paul, der in der Heimat gern die Überlegenheit eines Menschen zur Schau trug, der sich heraushält, geht in der Fremde aufs Ganze. Er bekennt sich zum „Hier und Jetzt“(so der Titel eines seiner Werke), öffnet sich den Augenblicken bedingungsloser Hingabe in der aufwühlenden Liebe zu Mitsu.
Hat diese Liebe eine Zukunft? Das Romanende setzt jedenfalls keinen Schlusspunkt. Und doch ist es eine Nähe am Abgrund. Muschg spielt das Motiv des Todes durch den Roman, er verfolgt es bis hinein in den Tumor-traum des Helden. Der Tod ist allgegenwärtig, den blühenden Obstbäumen und märchenhaften Kirschblütenalleen zum Trotz. Der Geigerzähler gibt das Maß vor, das Auge saugt sich fest an den Reihen der Plastiksäcke, gefüllt mit verseuchter Erde. Passend dazu der unnachahmliche Muschg-satz: „Wir stehen vor einem japanischen Kunstwerk der Verzweiflung, einem flächendeckenden Tagebau des reinigenden Wahns.“
Adolf Muschg schreibt wunderbare Passagen. Er bricht die Perspektiven, streut Anspielungen, wechselt den Stil. Das ist nicht leichthin zu lesen, geht auch nicht immer ohne Bruch voran. Und doch erreicht der Autor eine existenzielle Tiefe. Und zu dieser trägt wesentlich Adalbert Stifter bei. Ausgerechnet Stifter! Seine um Malerei und unverhoffte Liebe zentrierte Erzählung „Nachkommenschaften“ (1864) führt Paul Neuhaus unentwegt im Munde. Zitat folgt auf Zitat (typografisch abgesetzt). Es ist die hohe Kunst von Muschg, das unvereinbar Erscheinende, nämlich Stifter und Fukushima, engzuführen – die atomare Kettenreaktion und Stifters schicksalhafte „Blumenkette“(aus dem „Abdias“), den Geigerzähler und das Reisebarometer, die verstrahlte Todeszone und das düstere Moor.
Stifter schildert die Natur mit einer Präsenz und Sinnlichkeit, dass man ihr Verschwinden immer mitdenkt. Das ist das Zeitgemäße an diesem angeblich Unzeitgemäßen. Anknüpfend an Stifter hat Muschg auch einen Künstlerroman geschrieben. Immer geht es darum, was wir uns für ein Bild von der Welt machen, wie diese Bilder wechseln, wie wir in sie eingehen.
Paul Neuhaus fährt völlig verwandelt nach Europa zurück. Er hat neue Bilder im Kopf. Er wird nach Japan heimkehren.
Günter Ott
Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima C.H. Beck, 244 Seiten, 22 Euro