Ratgeber für das 21. Jahrhundert
„Als Spezies ist den Menschen Macht lieber als Wahrheit“ Der Historiker betrachtet in seinem neuen Buch die nähere Zukunft
Dieses Buch regt die Lust am Nachdenken an. Dieses Buch erklärt auch, warum die Welt dermaßen komplex ist. Dieses Buch macht vor allem darauf aufmerksam, wie radikal der technische Fortschritt sich auswirken wird. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari legt nach seinen beiden Bestsellern „Eine kurze Geschichte der Menschheit“und „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“sein neues Buch „21 Lektionen für das
21. Jahrhundert“vor – sein Ratgeber für die nähere Zukunft.
Harari ist auch in diesem Buch der Geisteswissenschaftler der Stunde – klug, unerschrocken und mit trockenem Humor schreibt er über die Umwälzungen, die die Kombination aus Biotechnologie und intelligenten Algorithmen hervorbringen werden. Bei Harari liest sich das wie folgt: „Wenn Ihnen jemand die Welt beschreibt, wie sie Mitte des
21. Jahrhunderts aussehen wird, und es wie Science-fiction klingt, dann ist es vermutlich falsch. Wenn Ihnen jemand die Welt Mitte des 21. Jahrhunderts beschreibt und es nach Science-fiction klingt – dann ist es mit Sicherheit falsch.“
Im Grund handelt es sich bei den 21 Lektionen um einen episodisch gegliederten Anhang zu „Homo Deus“, mit dem Ziel, nicht nur zu allgemeinen Schlüssen, sondern auch zu konkreten Handlungsanleitungen zu kommen. Harari fragt, wie es um die Arbeit in Zukunft bestellt ist. Gilt auch weiterhin, dass der technologische Fortschritt auf der einen Seite Arbeitsplätze zerstört, anderswo aber neue schafft? Oder übernehmen in näherer Zukunft intelligente und selbst lernende Programme die neu entstehenden Berufsfelder gleich mit. Und was passiert mit der Gesellschaft, wenn es tatsächlich für die große Mehrheit
nicht
der Menschen keine Arbeit mehr gibt, wenn sie wirtschaftlich nicht mehr benötigt werden? Und was heißt das für das Schulwesen? Sollen dort noch Informationen vermittelt werden oder ist es nicht viel wichtiger, den Menschen auf ein lebenslanges Umlernen vorzubereiten?
Die enormen technischen Sprünge in der Bio- und Informationstechnologie bergen auch für das politische System ein enormes Bedrohungspotenzial. Schon jetzt stehen die liberalen Demokratien unter einem großen Druck. In Zukunft könnten intelligente Algorithmen das Problem verschärfen. Bislang – so Harari – gaben die Gefühle der Menschen an den Wahltagen den Ausschlag, welche Regierungen gewählt wurden. „Sobald jemand über die technischen Möglichkeiten verfügt, das menschliche Herz zu ,hacken‘ und zu manipulieren, wird demokratische Politik zu einem emotionalen Puppentheater mutieren.“
Das ganze Buch über gelingt es Harari, seine Thesen und Gedanken pointiert darzustellen. Anders als ein Versicherungsmakler will er nicht mit der Angst vor der Zukunft ein Geschäft machen (nämlich Bücher zu verkaufen), sondern seine Leser zum Nachdenken bringen. „Wenn tausend Menschen einen Monat lang an irgendeine erfundene Geschichte glauben – dann handelt es sich um Fake News. Wenn eine Milliarde Menschen ein Jahrtausend lang daran glauben – dann haben wir Physik als Populärthema? Klingt nach einem Paradoxon. Stephen Hawking hat aber bewiesen: Es funktioniert. Für seinen Kosmologie-bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit“bedienten sich die Gestalter zweier Regeln: 1. zeigen, worum es geht – also Weltalloptik. 2. zeigen, wer’s geschrieben hat – also: Namen groß bringen, sogar größer als den Titel. Und ein Hawking-bild unterstützt noch den Wiedererkennungseffekt. es mit Religion zu tun, und man ermahnt uns, das nicht als Fake News zu bezeichnen, um die Gefühle der Gläubigen nicht zu verletzen.“Aber Harari kann Fake News auch nicht komplett ablehnen. Die Menschheit als Ganzes benötige große Erzählungen, um im Kollektiv zu funktionieren. Und diese Erzählungen nehmen es fast zwangsläufig mit der Wahrheit nicht so genau.
Und wie bitte mit den Ängsten umgehen? Im Zaum halten, dazu rät Harari. Konkret gelte das zum Beispiel für den Terrorismus, der für Staaten keine wirkliche Bedrohung darstellt, solange Terroristen nicht über Massenvernichtungswaffen verfügen. Erst die staatliche Antwort auf den Terrorismus kann in tatsächliche Kriege münden.
Wieder gelingt es Harari mit seinem Buch, das gewohnte Menschenbild radikal infrage zu stellen. Vom freien Willen bleibt bei ihm nichts übrig – erst recht nicht, wenn Computerprogramme die Menschen besser verstehen können als sie selbst. Je mehr Daten erhoben werden, desto wahrscheinlicher wird dieses Ereignis. Auch mit der Wahrheit hat es der Mensch für gewöhnlich nicht so genau. Für den täglichen Gebrauch sind Vereinfachungen praktischer. „Als Spezies ist den Menschen Macht lieber als Wahrheit. Wir verwenden viel mehr Zeit und Mühe auf den Versuch, die Welt zu kontrollieren, als darauf, sie zu verstehen.“
Genau darin sieht Harari eine Chance, in den großen technischen Umwälzungen der Zukunft als Menschheit nicht überflüssig gemacht zu werden. Solange Programme das menschliche Denken noch nicht manipulieren und verändern, sollte mehr Zeit in das Geheimnis investiert werden, das menschliche Denken und Bewusstsein zu verstehen. Letzteres stellt für Harari das größte Geheimnis des Universums dar. Wie geht es vonstatten, dass aus Sinneswahrnehmungen Gefühle werden? Wie entsteht Begeisterung für etwas? Wer das für sich selbst enträtseln will, muss lernen, sich beim Denken zu beobachten. Bekannt ist das unter dem Oberbegriff der Meditation, der Harari sein letztes Kapitel widmet. „Wenn wir uns anstrengen, können wir immer noch erforschen, wer wir wirklich sind. Aber wenn wir diese Chance nutzen wollen, sollten wir das jetzt tun.“Da schlägt dann doch – bei allem Humor – ein dramatischer Ton durch. Ein unterhaltsames, ein lesenswertes, ein herausforderndes Buch!
Richard Mayr
Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert
Aus d. Hebräischen von Andreas Wirthensohn,
C. H. Beck,
459 Seiten, 24,95 Euro