Guenzburger Zeitung

Im Schatten des Ararat

Eine Reise durch ein fasziniere­ndes Land, das es mit seinem Nachbarn Türkei schwer hat. Und doch kommen immer mehr Touristen nach Armenien, das mit seiner Landschaft und Geschichte beeindruck­t

- / Von Lilo Solcher

Wenn Charles Aznavour in seiner großzügige­n Villa in Jerewan war, dann konnte er bei klarem Wetter den heiligen Berg der Armenier am Horizont ausmachen. Doch der Ararat steht nicht mehr auf armenische­m Boden. „Der heilige Berg ist auf der falschen Seite“, sagt Aramajis Mnatsakanj­an und lacht, als hätte er einen blöden Witz gemacht.

Doch die Sache ist ernst. Der charakteri­stische Vulkan mit dem weiß überpudert­en Gipfel, an dem die Arche Noah nach der Sintflut gestrandet sein soll, ist zwar im Nationalwa­ppen abgebildet, befindet sich aber in Feindeslan­d – im türkischen Ostanatoli­en.

Rund um den 5137 Meter hohen Berg breiteten sich bis 1915 die armenische­n Ostprovinz­en aus. Der von der Türkei bis heute geleugnete Völkermord an den Armeniern beendete eine jahrtausen­dealte Geschichte, und er ist eine schwärende Wunde im Gedächtnis der Armenier – auch der jungen. Aramajis, flink, drahtig und immer zu einem Scherz aufgelegt, ist dankbar dafür, dass die von ihm bewunderte­n Deutschen den Genozid anerkannt haben. Der 34-jährige Vater von zwei Töchtern hat Deutsch fürs Lehramt studiert, aber nie unterricht­et. Lieber führt er Touristen durch sein schönes Land und versucht, ihnen die Augen zu öffnen für die Probleme und die Hoffnungen der Armenier. Und dabei steht der Ararat immer im Programm.

Am besten zu sehen ist der sagenumwob­ene Berg vom Kloster Chor Virap aus, etwa eineinhalb Fahrstunde­n von Jerewan entfernt. Hier, wo König Trdat III. im Jahr 288 n. Chr. den heiligen Gregor in eine Höhle sperrte und 13 Jahre gefangen hielt, begann die Geschichte des christlich­en Armenien. Denn Gregor ließ nicht vom Glauben und bekehrte den ungläubige­n König, nachdem er ihn von einer entstellen­den Krankheit geheilt hatte. Als erstes Volk in der Geschichte nahmen 301 die Armenier das Christentu­m als Staatsreli­gion an.

Das Land ist voll von solchen Geschichte­n. Man muss nicht über eine wacklige Leiter in Gregors feuchtes Kellerverl­ies hinunterkl­ettern, um die besondere Atmosphäre dieses Ortes zu spüren. Über die Mauern, die das Kloster umgeben, blickt man hinüber zum heiligen Berg und hinunter zum Fluss Arax, dahin, wo die Grenze zwischen Armenien und der Türkei verläuft. Bis heute ist sie geschlosse­n wie die andere Grenze zum Krisengebi­et Berg Karabach.

„Armenien ist das einzige Land der Welt, das zwei geschlosse­ne Grenzen hat“, macht Aramajis die prekäre Lage des kleinen Landes deutlich. Etwa drei Millionen Menschen leben in dem kaukasisch­en Binnenstaa­t. Doppelt so viele befinden sich im Ausland wie der nun verstorben­e Charles Aznavour, der sich auch als großer Förderer Armeniens einen Namen gemacht hatte. Und ohne die Gelder der Auslandsar­menier wäre das Land noch ärmer, als es ohnehin ist. Auf elf Milliarden Dollar, sagt Aramajis, belaufen sich die Auslandssc­hulden. Das Brutto-inlandspro­dukt liegt mit 11,5 Milliarden knapp darüber. Die Wirtschaft wächst zwar, hat aber längst noch nicht den Aderlass überwunden, den sie nach dem Zerfall der Sowjetunio­n erlitten hatte.

Damals blühende Industriel­andschafte­n verrottete­n mangels Energie, bis heute stehen die Ruinen in der Landschaft wie rostige Mahnmale. Fünf harte Jahre mussten die Armenier überstehen, ehe es langsam wieder aufwärtsgi­ng. Aramajis war 1991 noch ein Kind, aber erinnert sich, wie schwer das Leben wurde. Damals, als es kaum Strom gab, kein Gas, als die Menschen ihr Parkett und ihre Möbel verheizten. Damals war jeder froh, der einen Garten hatte, wo er das Nötigste zum Leben anbauen konnte, denn die Regale in den Läden waren leer.

Das hat sich geändert, vor allem in der quirligen Hauptstadt Jerewan ist von Mangel nichts zu spüren. Im Gegenteil, es gibt alles, was das Herz begehrt: teure Klamotten, die sich kein armenische­r Normalbürg­er leisten kann, Feinkost und Luxuskaros­sen, edle Restaurant­s und eine feierfreud­ige Jugend, die gern die Nacht zum Tag macht.

Jerewan ist eine der ältesten Städte der Welt – und eine junge Stadt. Am Abend, wenn am Platz der Republik die Fontänen nach der Musik tanzen, trifft sich viel Jungvolk auf den Bänken und Mäuerchen um die Springbrun­nen, um danach weiterzuzi­ehen in die Kneipen der Stadt.

Hier im Herzen Jerewans hat Städteplan­er Alexander Tamanjan seine Träume von einer „rosaroten Stadt“verwirklic­ht. Die meisten der repräsenta­tiven Gebäude sind aus im Sonnenlich­t warm schimmernd­em roten Tuffstein gebaut. Sehenswert wie der Platz der Republik ist die Kaskade, ein bis heute unvollende­ter Treppenkom­plex aus hellem Kalkstein, die hinaufführ­t zu einer Aussichtsp­lattform, von der man einen großartige­n Überblick über die Stadt hat. Wer allerdings direkt nach unten blickt, sieht immer noch verrostete Kräne und eine verlassene Baugrube. Im Inneren der Gebäude befinden sich einige Museen, darunter das erste große Museum für zeitgenöss­ische Kunst. Auf den Treppen lagern an warmen Tagen junge Leute und schmusende Pärchen.

Die Villa von Charles Aznavour direkt unter der Aussichtsp­lattform erinnert auch daran, wie viele Armenier im Ausland leben. Die Sängerin Cher gehört dazu, der Schachwelt­meister Garri Kasparow, der Milliardär Kirk Kerkorian, der Tennisstar André Agassi, der Schriftste­ller William Saroyan… Viele der reichen Diaspora-armenier haben in Jerewan investiert und neue, teure Häuser gebaut. Dafür mussten allzu oft die schönen alten Gebäude weichen, und für die Jerewaner, die in den schäbigen Plattenbau­ten der Vorstädte hausen, sind die Neubauten ohnehin unerschwin­glich. Bei einem monatliche­n Durchschni­ttseinkomm­en von 360 Euro ist das Geld knapp. Chronisch unterbezah­lt sind Ärzte und Lehrer. Dennoch ist ein Studium das höchste Ziel der jungen Leute – und das, obwohl die Hochschule­n Studiengeb­ühren verlangen.

Ein Leben auf dem Land, wie es die Molokanen in Filetovo führen, ist für die Hauptstadt-jugend unvorstell­bar. In Filetovo leben die Menschen wie aus der Zeit gefallen. Ein uralter Traktor rattert über die holprige Dorfstraße, vor den Holzhäuser­n türmen sich Heuberge, die Bauerngärt­en stehen in voller Blüte und auf den Feldern klauben ganze Familien Kartoffeln. Frauen in langen Kleidern und mit Kopftücher­n verkaufen am Straßenran­d Karotten und Kraut, Kartoffeln und Eingeweckt­es.

Im 19. Jahrhunder­t hatte der russische Zar die Anhänger eines spirituell­en Christentu­ms nach Armenien geschickt, und bis heute leben sie abgeschott­et in einer geschlosse­nen patriarcha­lischen Gesellscha­ft. Die Rudomjotki­nis sind schon seit 100 Jahren im Dorf, sechs Generation­en leben in dem kleinen Haus mit dem großen Garten. Es gibt eine eigene Schule, in der Russisch als erste Sprache gelehrt wird. Der Bürgermeis­ter ist zugleich das Oberhaupt der Gemeinde. Alkohol gibt es hier nicht, auch keine Kreuze.

Das will etwas heißen in Armenien, wo die traditione­llen Kreuzstein­e aus dem 15. und 16. Jahrhunder­t zu Tausenden zu finden sind. Fein gemeißelt wie steinerne Spitze sind die Symbole eines innigen Glaubens. Einige der schönsten dieser Kreuzstein­e stehen in Edschmiads­in, dem religiösen Zentrum des Landes, auch Unesco-weltkultur­erbe. Die Klostersta­dt, wo der Katholikos, das Oberhaupt der armenische­n Kirche, residiert, gilt als der „Vatikan Armeniens“. Im Park trifft man auf angehende Priester, die ins Gespräch vertieft sind, und Familien, die sich vor den mächtigen Gebäuden fotografie­ren.

In der imposanten Kirche findet gerade eine Liturgie statt, die Gläubigen drängen sich vor dem Hauptaltar. Alte Frauen und junge Männer beten mit großer Inbrunst, vor den Ikonen flackern Kerzen, Kinder wuseln zwischen den Erwachsene­n. Die armenische Kirche vereint die Armenier – und der Stolz auf ihre Geschichte, auf die uralten Kreuzkuppe­lkirchen, die von einer langen Glaubenstr­adition erzählen. In Edschmiads­in, zu Deutsch „herabgesti­egen ist der eingeboren­e Sohn“, wird eine Lanzenspit­ze als Reliquie aufbewahrt, mit der Christus am Kreuz durchbohrt worden sein soll – und außerdem ein Fragment der Arche Noah.

Hier war der heilige Gregor in einer Höhle gefangen

Alte Frauen und junge Männer beten inbrünstig

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 ?? Fotos: Solcher (9); Kirill Kudryavtse­v, afp ?? Oben thront der Ararat. Dazu Impression­en aus Armenien, von (links oben) dem Hauptplatz in Eriwan bis zum dortigen Maison Charles Aznavour (rechts unten). Dazwischen unter anderem: Tee in einem Molokanen-dorf, gedenkende Soldaten in Etschmiads­in und ein Brautpaar in Garni am Sonnentemp­el.
Fotos: Solcher (9); Kirill Kudryavtse­v, afp Oben thront der Ararat. Dazu Impression­en aus Armenien, von (links oben) dem Hauptplatz in Eriwan bis zum dortigen Maison Charles Aznavour (rechts unten). Dazwischen unter anderem: Tee in einem Molokanen-dorf, gedenkende Soldaten in Etschmiads­in und ein Brautpaar in Garni am Sonnentemp­el.
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