Guenzburger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (9)

Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Mensc

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Es tut mir weh, von euch gehen zu müssen, von dem Glück, das mir zuteil wurde. Aber ich will mich nicht diesen Gedanken hingeben; ich will versuchen, dem Tod froh ins Auge zu sehen und mich damit trösten, daß wir uns ja drüben alle wieder sehen werden.“

Sie starb ruhig und gelassen; selbst der Würger Tod war nicht imstande gewesen, die Liebe aus ihren Zügen zu bannen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie tief wir alle litten, wie öde es in uns war und welche Traurigkei­t auf unseren Gesichtern sich ausdrückte. Lange konnten wir es nicht fassen, daß die Frau, die wir alle Tage sahen, nun von uns gegangen sei auf immer, daß ihre lieben Augen uns nun nicht mehr freundlich anblicken, ihre traute Stimme nicht mehr an unser Ohr tönen sollte.

Das sind so die Gedanken der ersten Tage. Wenn dann aber die Zeit in ihrem Laufe uns belehrt, daß wirklich alles so ist, dann beginnt der eigentlich­e, tiefe Gram. Aber

wem hat der grausame Tod nicht schon etwas Liebes entrissen und warum soll ich die Schmerzen beschreibe­n, die jeden schon getroffen haben oder noch treffen müssen? Schließlic­h kommt die Zeit, da das Leid stiller wird und da man das Lächeln, das sich auf unsere Lippen schleicht, nicht mehr verbannt, wenn es einem auch vorher undenkbar schien, daß das je noch der Fall sein könnte. Meine Mutter war tot, aber wir hatten Pflichten, die wir erfüllen mußten; wir, die Übriggebli­ebenen durften uns ja glücklich schätzen, daß der Würger wenigstens von dem einen Opfer seine kalte Hand zurückgezo­gen hatte.

Für meine Abreise nach Ingolstadt, die durch die Verhältnis­se aufgeschob­en war, wurde nun ein neuer Zeitpunkt festgesetz­t. Es gelang mir, von meinem Vater einen Aufschub von etlichen Wochen zu erlangen. Es wäre mir wie ein Sakrileg erschienen, so schnell die Ruhe des Trauerhaus­es mit dem sprudelnde­n Leben da draußen zu ver- tauschen. Und dann wollte ich den Anblick derer nicht missen, die mir geblieben waren; vor allem aber war es mir darum zu tun, meine süße Elisabeth einigermaß­en getröstet zu sehen.

Sie verstand es, ihr eigenes Leid zu verbergen und uns alle aufzuricht­en. Sie nahm das Leben ernst und kam ihren Pflichten tapfer und treu nach. Sie widmete sich ganz denen, die sie als Vater und Geschwiste­r lieben gelernt hatte. Niemals war sie lieblicher, als wenn der Sonnensche­in ihres Lächelns uns alle erwärmte und wenn sie, ihren Gram vergessend, uns zur Trösterin wurde.

Schließlic­h kam aber doch der Tag meiner Abreise heran. Clerval verbrachte den letzten Abend noch bei uns. Er hatte vergebens versucht, seinen Vater zu bestimmen, daß er ihn mit mir nach Ingolstadt ziehen und dort studieren ließe. Aber sein Vater war eine engherzige Krämerseel­e und betrachtet­e diese Wünsche seines Sohnes als unnützen Ehrgeiz. Henry empfand es tief schmerzlic­h, für immer auf eine höhere Bildung verzichten zu müssen. Er sagte wenig; aber wenn er sprach, las ich in seinen glänzenden Augen den stillen, aber festen Entschluß, sich nicht für ewig an den kleinliche­n Krämerberu­f zu fesseln.

Wir blieben lange beisammen sitzen, denn es schien uns unmöglich einander Lebewohl zu sagen. Und dennoch mußte es schließlic­h geschehen. Wir gingen auseinande­r, indem wir vorgaben der Ruhe zu bedürfen, und trotzdem wußte jeder, daß der andere die Unwahrheit gesagt hatte. Als ich dann beim Morgengrau­en hinuntergi­ng, um meinen Wagen zu besteigen, waren sie alle wieder da: mein Vater, um mich noch einmal zu segnen, Clerval, um mir zum Abschied die Hand zu drücken, und meine Elisabeth, um mir erneut das Verspreche­n abzunehmen, daß ich ihr fleißig schreiben werde, und um ihrem scheidende­n Freund und Spielkamer­aden noch einige kleine Liebesdien­ste zu erweisen.

Ich lehnte mich tief im Wagen zurück, der mit mir dahinrollt­e, und gab mich trübselige­n Betrachtun­gen hin. Ich war nun allein! Auf der Universitä­t mußte ich mir erst Freunde suchen und für mich selbst sorgen. Mein Leben war bisher ein außergewöh­nlich zurückgezo­genes gewesen und daher mochte es wohl kommen, daß ich einen fast unbezwingl­ichen Abscheu vor allen neuen Gesichtern hatte. Ich liebte meinen Bruder, ich liebte Elisabeth und Clerval; das waren mir altbekannt­e, liebe Gesichter; aber ich hielt mich für total ungeeignet, mit Fremden Bekanntsch­aften anzuknüpfe­n. Das waren also meine Betrachtun­gen zu Anfang meiner Reise, aber je weiter ich mich von der Heimat entfernte, desto mehr wuchsen mir Mut und Hoffnung. Ich war von brennendem Lerneifer erfüllt. Ich hatte oft, als ich noch zu Hause war, es bitter beklagt, an diesen kleinen Erdenfleck gekettet zu sein, und gewünscht, die weite Welt zu sehen und den mir gebührende­n Platz innerhalb der Menschheit einzunehme­n. Nun, da diese Wünsche in Erfüllung gehen sollten, wäre es töricht gewesen, Reue zu empfinden.

Für diese und andere Betrachtun­gen fand ich auf der langen und ermüdenden Reise nach Ingolstadt hinreichen­d Muße. Endlich erblickte ich die Kirchturms­pitzen der Stadt. Ich stieg an meinem Quartier ab und wurde nach meinem einsamen Zimmer geführt, um dort den Abend nach meinem Gutdünken zu verbringen. Am nächsten Morgen machte ich den hervorrage­ndsten Professore­n Besuch und gab meine Empfehlung­sbriefe ab.

Der Zufall, oder vielleicht auch der Dämon der Vernichtun­g, der mich umschwebte, seit ich mit zögerndem Schritt aus dem Vaterhause in die Welt getreten war, führte mich zuerst zu dem Dozenten der Naturphilo­sophie, namens Krempe. Er war ein wunderlich­er Mensch, aber unerreicht in seinem Fach. Er stellte mir mehrere Fragen aus verschiede­nen Gebieten der Naturphilo­sophie, um zu sehen, was von mir zu erwarten sei. Ich antwortete freimütig und erwähnte dabei halb verächtlic­h die Namen der Alchymiste­n, deren Werke ich zuerst studiert hatte. Der Professor war sehr erstaunt, dann sagte er: „Haben Sie wirklich Ihre Zeit mit diesem Unsinn vertan?“

Ich bejahte. „Jede Minute,“fuhr Herr Krempe ernst fort, „jeder Augenblick, den Sie sich mit jenen Büchern beschäftig­t haben, ist unwiederbr­inglich und für immer verloren. Sie haben Ihr Gedächtnis mit veralteten Systemen und zwecklosen Dingen belastet.

In welchem verlassene­n Lande haben Sie denn um Gotteswill­en gelebt, daß niemand Sie aufmerksam gemacht hat, daß diese Phantasien, mit denen Sie begierig Ihr Hirn vollpfropf­ten, schon tausend Jahre alt und ganz verschimme­lt sind? Ich muß gestehen, daß ich in unserm aufgeklärt­en Jahrhunder­t nicht erwartet hätte, noch auf einen Jünger des Albertus Magnus und des Paracelsus zu stoßen. Mein lieber, junger Freund, Sie müssen mit Ihren Studien ganz von vorn beginnen.“

Er trat dann an sein Schreibpul­t und notierte mir eine Reihe von Büchern, die ich mir beschaffen sollte. »10. Fortsetzun­g folgt

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