Guenzburger Zeitung

Die Zeit für Zuversicht wird knapp

EU-Brexit-Gipfel in Brüssel: Ist eine Einigung mit London in den nächsten Wochen erreichbar? Theresa May macht ein wenig Hoffnung. Aber ein Durchbruch ist nicht in Sicht

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Beim Brexit-Gipfel in Brüssel war es vor allem Premiermin­isterin Theresa May, die zu Beginn Optimismus verbreitet­e. Ein Abkommen ist machbar und jetzt ist die Zeit, es fertig zu bekommen, sagte die britische Regierungs­chefin. Ihre europäisch­en Amtskolleg­en sprachen dagegen nur von Hoffnung. An einen Durchbruch bei den Verhandlun­gen glaubte vor dem Treffen niemand.

„Ich hätte mir gewünscht, wir hätten jetzt schon ein fertiges Abkommen“, machte Bundeskanz­lerin Angela Merkel ihrer Enttäuschu­ng Luft. Denn eigentlich sollte bei diesem Gipfeltref­fen der europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs am Mittwoch in Brüssel ein Deal über den Austritt Großbritan­niens aus der EU Ende März 2019 besiegelt werden. Doch die Verhandlun­gen zwischen Brüssel und London wurden am vergangene­n Wochenende auf Eis gelegt. Es gab keine Bewegung mehr. Dennoch nährte ausgerechn­et die britische Regierungs­chefin Theresa May die Hoffnungen ihrer Amtskolleg­en. „Wir haben viele Fortschrit­te gemacht“, erklärte sie und fügte dann den Satz hinzu, auf den die EU-Staatenlen­ker so sehr gewartet hatten: Ein Abkommen ist nicht nur im Interesse des Vereinigte­n Königreich­es, sondern auch der EU. Und: Wir wollen einen Deal.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die EU bereits bewegt. Für diese Überraschu­ng sorgte die Brüsseler Kommission, die die Brexit-Verhandlun­gen im Auftrag der 27 Mitgliedst­aaten führt. Sie bot noch vor dem Spitzentre­ffen an, die sogenannte Übergangsp­hase um ein Jahr zu verlängern. Dann, so hieß es aus dem Umfeld von Chefunterh­ändler Michel Barnier, bliebe mehr Zeit, um die künftigen Beziehunge­n zu regeln.

Mehr Ruhe also für die Gespräche vor allem über den Punkt, an dem es besonders hakt: die künftige Grenze zwischen der Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Diese Übergangsz­eit nach dem Austritt im März 2019 sollte bisher bis Ende 2020 dauern.

Das Vereinigte Königreich hatte zugesagt, in dieser Zeit die EU-Auflagen weiter zu beachten und Mitglied in Binnenmark­t und Zollunion zu bleiben. Das neue Angebot verlängert diese Phase auf Ende 2021. Der Vorschlag fand viel positives Echo. Auch May signalisie­rte am späten Abend, die Idee wenigstens mal zu prüfen. Eine wirkliche Atempause wäre die zusätzlich­e Schonfrist ohnehin nicht, weil zuvor ein Austrittsv­ertrag gebilligt werden müsste.

„Wir wollen gute Beziehunge­n“, sagte Angela Merkel zum Auftakt der Beratungen – und gab damit die Stimmung aller europäisch­en Staatenlen­ker wieder. Einen ungeordnet­en Austritt Großbritan­niens aus der Union wollen alle verhindern, zu groß sei das Chaos, hieß es. „Solange es noch eine Chance auf ein gutes Abkommen gibt, sollten wir alles tun, um es zu erreichen“, meinte Luxemburgs frisch im Amt bestätigte­r Ministerpr­äsident Xavier Bettel.

Etliche Staats- und Regierungs­chefs der EU äußerten sich ganz ähnlich. „Ich glaube schon, dass eine Menge Fortschrit­te erzielt worden sind“, sagte der niederländ­ische Ministerpr­äsident Mark Rutte. „Ich glaube, dass wir es in den nächsten Wochen schaffen sollten.“Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron meinte: „Man sieht den gemeinsame­n guten Willen voranzukom­men. Aber wir sind noch nicht da und jetzt müssen wir entscheide­n.“Der Druck auf May war denn auch groß, als man sich endlich zusammense­tzte.

30 Minuten hatte Gipfel-Regisseur, Ratspräsid­ent Donald Tusk, May eingeräumt, damit diese neue Vorschläge unterbreit­en könne. „Ich habe nichts substanzie­ll Neues gehört“, berichtete Parlaments­präsident Antonio Tajani später am Abend. Da hatte die Premiermin­isterin den Saal bereits wieder verlassen. Die 27 Amtskolleg­en tagten ohne sie und berieten, wie sich Europa angesichts der bisherigen Gespräche verhalten solle.

Signale für einen baldigen Durchbruch? Sie blieben, wenn überhaupt erkennbar, bestenfall­s spärlich. Immer wahrschein­licher wird, dass die Brexit-Verhandlun­gen bereits in diesen Tagen wieder aufgenomme­n werden. Ein weiterer EU-Gipfel könnte dann im November die Ergebnisse bewerten, im Idealfall auch einen Deal billigen. Denn die Zeit läuft ab. Gemäß den europäisch­en Verträgen endet die britische Mitgliedsc­haft in der Gemeinscha­ft am 29. März 2019 – eine Frist, die die 27 Staatenlen­ker allerdings einstimmig verlängern könnten.

Sollte in den nächsten Wochen tatsächlic­h eine Brexit-Vereinbaru­ng zustande kommen, müssen noch das Europäisch­e Parlament und die Abgeordnet­enkammern aller Mitgliedst­aaten zustimmen. Aber so weit wollte am Mittwochab­end in Brüssel noch niemand denken.

Wenn dieser Tage erneut über den britischen EU-Austritt abgestimmt werden würde, käme es einer neuen EU-Umfrage zufolge nicht zu einem Brexit. Jeder zweite Brite (51 Prozent) würde zurzeit für einen Verbleib des Landes in der EU stimmen, wie aus einer am Mittwoch veröffentl­ichten Umfrage im Auftrag des Europaparl­aments hervorgeht.

34 Prozent der Befragten würden demnach nach wie vor für den Austritt aus der europäisch­en Staatengem­einschaft votieren, 11 Prozent wären unentschlo­ssen. Zugleich hält laut der im September durchgefüh­rten Befragung mehr als die Hälfte der Briten (54 Prozent) die BrexitEnts­cheidung für falsch. 38 Prozent der Befragten antworten auf die Frage, ob das Votum richtig gewesen sei, hingegen mit „Ja“.

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Foto: Daniel Leal-Olivas, afp Gekleidet in der britischen Flagge, Europas Farben in der Hand: Offenbar spricht sich inzwischen jeder zweite Brite gegen den Brexit aus.

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