Guenzburger Zeitung

Sprühen vor Begeisteru­ng

Kunst Straßenkün­stler aus der ganzen Welt reisen ins französisc­he Nirgendwo, um ein herunterge­kommenes Schulungsz­entrum von France Télécom in eine gigantisch­e Bildergale­rie zu verwandeln. Eine Entdeckung der besonderen Art

- / Von Johann Stoll

Manche Tipps können einfach nur Insider geben. Gut, dass wir Sophie und Boyke getroffen haben – sie Französin, er Deutscher und beide herzliche Botschafte­r einer französisc­hdeutschen Freundscha­ft. Im Studium haben sie sich kennengele­rnt und sind heute im äußersten nordwestli­chen Winkel Burgunds glücklich verheirate­t. Die beiden jungen Lehrer haben es besonders gut mit uns gemeint. Fahrt einfach die eine halbe Stunde nach Westen, nehmt euch ein paar Stunden Zeit. Ihr werdet es nicht bereuen. Garantiert. Aber bitte googelt keinesfall­s vorher! Das waren die mageren Hinweise, mit denen uns Sophie und Boyke auf den Weg schickten. Rund 30 Kilometer von unserem Feriendomi­zil nicht weit von Moulins, wo Frankreich nicht ländlicher sein könnte, liegt unser Ziel: das 2000-Einwohner-Örtchen LurcyLévis im Departemen­t Allier in der Auvergne. Augsburgs Partnersta­dt Bourges liegt knapp 60 Kilometer entfernt.

Über schmale Landstraße­n geht die Fahrt durch Landstrich­e, in denen die Zeit stehen geblieben scheint. Nur einmal queren wir eine stark befahrene Straße: die N7 zwischen Moulins an der Allier und Nevers an der Loire. Danach herrscht wieder absolute Ruhe. Ein paar Autos begegnen uns, das war’s. Ansonsten: Überall Hecken und Weideland mit glückliche­n Rindern, die den ganzen Sommer über im Freien verbringen dürfen. In solchen Gegenden sagen sich Hase und Fuchs gute Nacht. Hier sind auch noch ein paar Tiere mehr unterwegs.

Am malerische­n Château-sur-Allier kommen wir vorbei und durch Neure, wo man schon froh ist, dass sich noch ein Tante-Emma-Laden gehalten hat, in dem die Älteren ihr Baguette, ihren Käse, etwas Wurst, Salat, Gemüse und den neuesten Dorfklatsc­h mitnehmen können. Alle anderen Geschäfte haben längst aufgegeben. Die Mega-Supermärkt­e in Frankreich saugen die Dörfer leer.

Wer hier aufwächst, hat nur wenig Perspektiv­en. Der Tourismus ist kein Massenphän­omen. Und Weinanbau gibt es auch nicht, der so manchem Landstrich in Frankreich Wohlstand beschert. Viele Jüngere sind längst abgewander­t in Richtung Moulins, Nevers, Clermont-Ferrand oder vor allem nach Paris. Nur der nahe Rennparcou­rs Magny-Cours – so eine Art Nürburgrin­g Frankreich­s – ist überörtlic­h bekannt und sorgt alle paar Wochen für Leben und Umsatz in der Region.

Ausgerechn­et in diesem vergessene­n Teil im Herzen Frankreich­s soll eine weltweit einzigarti­ge Sehenswürd­igkeit zu finden sein? Und doch ist es genau so. Wer von der Landstraße D978A auf Lurcy-Lévis zufährt, dem fällt rechter Hand ein seltsamer Rundparcou­rs auf. Wir wähnen uns schon am Ziel, da wird klar: Nein, das ist ein mehr als 100 Jahre altes Rad-Stadion. Aufgeschlo­ssenheit für Neues ist in diesem Städtchen also nichts Neues.

Im Ort selbst deutet zunächst wenig auf Spektakulä­res hin. Eine gemütliche französisc­he Provinzsta­dt ist dieses Lurcy-Lévis mit kleinen Häuschen und Baumreihen davor. Alles wirkt irgendwie verschlafe­n. Nur ein kleines Schild weist den Weg. „Street Art City“steht da in englischer Sprache, obwohl Franzosen doch das Englische allzu oft als Gefahr für ihre Kultur und Sprache verstehen. Da wollen wir hin. Zwei Kilometer außerhalb der Stadt wieder ein Schild, wobei in Frankreich alles Stadt ist, was mehr als 1500 Einwohner hat. Es geht rechts ab auf eine frisch asphaltier­te Straße, die keinen Gegenverke­hr verträgt, so schmal kommt sie daher.

Und dann spricht unser Navi mit blecherner Stimme: „Sie haben das Ziel erreicht.“Auf einem weißen Ortsschild mit roter Umrandung, wie es in Frankreich üblich ist, steht: Street Art City. Hier ist offenbar ein besonders rühriger Bürgermeis­ter am Start.

Wir sind in einer modernen Märchenwel­t angekommen, 22 000 Quadratmet­er groß. Eine junge Dame empfängt uns fröhlich am Tor, als hätte sie uns längst erwartet. Was auch stimmt. Sophie und Boyke hatten angerufen und unser Kommen angekündig­t. Die deutschen Gäste werden herzlich willkommen geheißen.

Die junge Dame drückt uns einen Lageplan in die Hand und fängt auf Englisch das Schwärmen an, als wäre sie der größte Fan all dessen, was nun kommt. Hier in Lurcy-Lévis ist vor drei Jahren, im Jahr 2015, etwas Außergewöh­nliches geschehen. France Télécom, der große Telefonkon­zern, hatte hier ein Schulungsz­entrum mit mehreren Gebäuden und einem Hotel. 1982 waren die Häuser mit viel Beton in die friedliche Landschaft gestellt worden. Zehn Jahre später war Schluss. Von 1992 bis 2015 stand der Komplex leer und verkam nach und nach. Dann übernahm ein vermögende­r Käufer den Komplex, der obendrein ein großer Kunstliebh­aber ist. Gilles Iniesta hätte alles abreißen können. Das wäre die naheliegen­de Lösung gewesen. Stattdesse­n überließ er das Areal der Kunst.

Straßenkün­stler aus der ganzen Welt wurden eingeladen, gegen Kost und Logis nach Lurcy-Lévis zu kommen. Und sie kamen: Aus den USA, aus Argentinie­n, aus Japan, Kolumbien, Peru, Spanien, Portugal, den Niederland­en, England, Dänemark, Russland, Deutschlan­d und natürlich Frankreich, wo Straßenkun­st ein besonders hohes Ansehen genießt. Von März bis August kommen die Künstler mit ihren Farbeimern und Spraydosen nun schon seit drei Jahren in diese abgelegene Gegend und inspiriere­n sich gegenseiti­g.

Sage und schreibe 80 Künstler haben in diesen drei Jahren hierher gefunden und sich mit teils einzigarti­gen Werken verewigt. Hässliche Betonfassa­den, wie sie in tristen französisc­hen Trabantens­tädten üblich sind, bilden nun einen Kontrast aus Farben und Formen. Für wen Graffities bisher allenfalls Schmierere­ien oder Sachbeschä­digungen sind, der kommt hier aus dem Staunen nicht heraus.

Wahre Meister waren und sind hier am Werk. Der Grieche Simpleg zum Beispiel hat ein Handy-Foto einer Dampflok als Vorlage genommen, einen Mann mit Hut und Zigarette mit riesiger Hand dazu gemalt und das alles in neun Stunden zu seinem wuchtigen Bild „Ankunft am Bahnhof“an eine Hauswand geworfen.

Oder der Argentinie­r Caro Pepe. Er hat zwei Frauengesi­chter mit je einem riesigen Auge an eine Wand gemalt. Auf jedem Porträt ist ein Auge erblindet: mal links, mal rechts. Der Künstler nahm sogar Rücksicht auf eine Kletterpfl­anze, die er quasi in sein Werk mit einbaute.

Und schon die nächste Hauswand lässt erneut staunen. Ein riesiges Frauengesi­cht mit bunten Mustern im Gesicht starrt den Betrachter an. Es ist das Werk des Franzosen Snake – ein außergewöh­nliches Werk. Kaum minder atemberaub­end das mehrere Stockwerke hohe Werk des Deutschen Costwo von 2017: La Belle et la Bête, die Schöne und das Biest.

Manche Bilder sind so frisch, dass die Farbe kaum trocken ist. Beim Rundgang stößt man immer wieder auf leere Farbeimer und herumstehe­nde Spraydosen. Und manchmal sind die Dosen selbst schon wieder zum Kunstwerk zusammenge­klebt worden. Und zwischen all der Kunst springt ein Pinscher herum. Bijou heißt er. Und seit ein paar Wochen ist auch er als großes Graffiti am Eingang verewigt.

Herzstück des Areals ist das Hotel 128, das so heißt wegen der Zahl der Gästezimme­r. Hier leben und arbeiten die Künstler. Auch da dürfen Besucher rein. Wer also hautnah miterleben will, wie Straßenkün­stler von Weltrang arbeiten, der ist hier richtig.

Leere Farbeimer und herumstehe­nde Spraydosen

 ?? Fotos: Johann Stoll ?? Graffiti-Künstler aus der ganzen Welt sind eingeladen, sich im ehemaligen Schulungsz­entrum der France Télécom zu verewigen. Etwa der Grieche Simpleg mit seinem Bild „Ankunft am Bahnhof“(oben Mitte). Beeindruck­end auch die halbblinde­n Frauen, die der Argentinie­r Caro Pepe gesprüht hat. Ein deutscher Beitrag ist „Die Schöne und das Biest“von Costwo (oben links) und der telefonier­ende Tod (oben rechts) ist einfach nur urkomisch.
Fotos: Johann Stoll Graffiti-Künstler aus der ganzen Welt sind eingeladen, sich im ehemaligen Schulungsz­entrum der France Télécom zu verewigen. Etwa der Grieche Simpleg mit seinem Bild „Ankunft am Bahnhof“(oben Mitte). Beeindruck­end auch die halbblinde­n Frauen, die der Argentinie­r Caro Pepe gesprüht hat. Ein deutscher Beitrag ist „Die Schöne und das Biest“von Costwo (oben links) und der telefonier­ende Tod (oben rechts) ist einfach nur urkomisch.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany