Der Teufelskreis von Sucht und Trauma
Knapp drei Millionen Menschen in Deutschland sind suchtkrank. Forscher haben jetzt herausgefunden, dass diese Erkrankungen ihre Wurzeln oft in massiven frühkindlichen Verletzungen haben. Darum muss man sie anders behandeln
Unter dem Motto „Trauma und Sucht“findet heute in Augsburg ein Fachforum des Traumahilfe-Netzwerks Augsburg und Schwaben statt. Ein Thema, das offenbar viel mehr Menschen betrifft, als man denkt. Wie viele leiden denn unter einer SuchtTrauma-Problematik?
Sebastian Müller: Wir gehen davon aus, dass wir 1,3 Millionen alkoholabhängige Menschen in Deutschland haben. Dazu kommt noch einmal etwa die gleiche Zahl an Medikamentenabhängigen und 300000 Drogenabhängige – damit sind wir schon bei knapp drei Millionen Suchtabhängigen. Wenn man sich dann überlegt, dass je nach Studie zwischen 30 bis 90 Prozent der Suchtkranken traumatisiert sind, dann ist das eine enorme Zahl.
Das ist ja erschreckend.
Müller: Vor allem, wenn man bedenkt, dass in betroffenen Familien die Bedürfnisse der Kinder oftmals nicht ausreichend erfüllt werden können und die Sucht von Generation zu Generation weitergegeben wird. Über drei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland haben mindestens ein suchtkrankes Elternteil.
Ab wann bin ich süchtig? Wenn ich abends ein Glas Rotwein trinke? Müller: Wenn ich die Kontrolle über den Konsum verloren habe. Abends kann man durchaus ein Glas Rotwein trinken. Wenn daraus aber zwei, drei, vier werden, dann wird es bedenklich. Wenn zum Beispiel der Wunsch, Alkohol zu konsumieren, obwohl ich Auto fahren muss, immer stärker wird, sollte man sich Hilfe suchen. Allerspätestens, wenn der Körper nicht mehr ohne den Stoff auskommt, weil er keine eigenen Beruhigungsstoffe mehr produziert, ist es höchste Eisenbahn.
Was sind das für Leute, die davon betroffen sind?
Müller: Alkoholkranke kommen erst nach durchschnittlich zehn Jahren zu uns. Das sind nicht die Alkoholiker, die unter der Brücke liegen. In der Regel kommen zu uns gut integrierte Menschen, die stammen aus allen Schichten. Je mehr Stress jemand hat, umso anfälliger ist er, den mit Suchtmitteln zu kompensieren. Da ist der Nachbar, der Lehrer, der Altenpfleger oder der Arzt.
Kinder von Suchterkrankten werden ebenfalls öfter als andere süchtig. Welchen Zusammenhang gibt es da? Müller: Da gibt es drei Zusammenhänge. Da ist einmal eine genetische Komponente: Wer mehr Alkohol verträgt, ist anfälliger für Alkoholerkrankungen, weil er die negativen Folgen nicht so leicht spürt. Zweitens gibt es das Gleiten in die Sucht durch Beobachtung. Wenn in einer Familie Alkohol dazugehört und es schon normal ist, morgens zum Frühstück zu trinken, dann wird das von den Kindern nachgeahmt. Zum Dritten sind diese Menschen oft stärker von Traumatisierung betroffen. Wenn die Eltern schon abhängig sind, können sie sich nicht ausreichend um die emotionale Entwicklung eines Kindes kümmern. Alkohol fördert beispielsweise die Aggression, in diesen Familien steigt das Gewaltpotenzial. Dadurch entstehen möglicherweise Traumata.
Viele Suchterkrankte haben als Kind Gewalt oder Vernachlässigung erlebt und rutschen später in eine Sucht als Folge ihrer Gewalterfahrungen. Die Betroffenen kompensieren beispielsweise Panikattacken mit Alkohol und Psychopharmaka. Ist das nicht ein Teufelskreis?
Müller: Ja. Das kann ganz schnell dazu werden. Denn das Suchtmittel hilft, die Symptome der Übererregung zu dämpfen. Und dann prägen sich beispielsweise Alkohol oder Drogen als Problemlösung im Gehirn ein. Erst im Laufe der Suchtentwicklung wird diese Lösung zum eigenständigen Problem. Dann beginnt der Teufelskreis. Es wird immer mehr getrunken, um die Probleme zu lösen, die eigenen Ressourcen werden immer geringer, der Teufelskreis schließt sich langsam. Dazu kommt Scham, denn die Betroffenen wissen, dass etwas falsch läuft, aber sie schaffen es nicht mehr heraus, weil sie die Kontrolle über sich selbst schon verloren haben.
Wie lässt sich für den Fachmann der Zusammenhang zwischen Trauma und Sucht erkennen?
Müller: Häufig ist es erst dann zu erkennen, wenn bei Menschen, die in der Suchtbehandlung und nüchtern sind, plötzlich belastende Bilder hochkommen, mit denen sie lange nicht mehr konfrontiert waren. Das sind alte Erinnerungen, die sie mit den Drogen verdrängen wollten.
Was können das für traumatische Erlebnisse sein?
Müller: Darunter verstehen wir alle Erlebnisse, die mit Lebensbedrohung zu tun haben und plötzlich kommen. Das kann einen direkt selbst betreffen oder man ist als Beobachter dabei. Dazu gehören zum Beispiel Gewalttaten in einer Familie. Aber auch Folter, Flucht, Autounfälle oder Naturkatastrophen können Traumafolgestörungen nach sich ziehen. Normalerweise hat der Mensch ja so eine Art Urvertrauen. Das ist nach solchen Ereignissen gestört. Das Gehirn kann diese Ereignisse oft nicht normal abspeichern.
Die Themen Sucht und Trauma werden oft nicht zusammen behandelt. Es gibt aber eine neue Traumatherapie, wie sieht die aus?
Müller: Die Therapie schlechthin gibt es nicht. Aber es gibt inzwi- schen ein Verständnis dafür, dass die Betroffenen integrativ therapiert werden müssen. Früher hat man erst die Sucht allein behandelt. Wenn man aber Sucht und Trauma gemeinsam behandelt, ist das deutlich erfolgreicher.
Ein Aspekt dieser Therapieansätze ist nach Meinung von Fachleuten das Eingehen auf positive Werte: Warum ist es so wichtig, ehrlich zu sich selbst und zu anderen zu sein?
Müller: Eines der Probleme bei der Sucht ist, dass man sie vor sich selbst verleugnet. Die Betroffenen haben meistens zwei Seiten in sich. Die eine will konsumieren, die andere nicht. Erstere bagatellisiert die Sucht. Der Ausweg aus der Sucht ist erst dann möglich, wenn man ehrlich zu sich selbst ist. Die Anonymen Alkoholiker haben das sehr schön in ihrer Präambel formuliert. Da heißt es: Der erste Schritt ist es, sich einzugestehen, dass man alkoholabhängig ist und gegenüber dem Alkohol die Macht verloren hat. Das Gleiche gilt für die posttraumatische Belastungsstörung. Hier muss man sich klarmachen, dass es ein schmerzliches Ereignis gab, das einen aus den Angeln gehoben hat. Beide Störungsbilder haben damit zu tun, dass man die Kontrolle über sich verliert. Das empfindet man als sehr belastend.
Wie groß sind die Aussichten auf Erfolg einer solchen Therapie?
Müller: Tendenziell wissen wir, wenn wir beides zusammen behandeln können, sind die Aussichten auf Erfolg größer als bei einer isolierten Therapie. Genaue Zahlen sind mir allerdings nicht bekannt.
Wohin kann man sich als Betroffener wenden?
Müller: Da gibt es als erste Anlaufstelle die Suchtberatungsstellen, die es in Schwaben und Oberbayern flächendeckend gibt. Wir klären mit den Menschen, welche Hilfe sie brauchen, und zeigen ihnen dann die Möglichkeiten auf. Auch das Traumahilfe-Netzwerk in Schwaben ist ein guter Ansprechpartner. Und natürlich der Hausarzt.
Interview: Josef Karg
Sebastian Müller arbeitet in der Suchtberatungsund Behandlungsstelle des Caritasverbands für den Landkreis Landsberg.