Guenzburger Zeitung

Die Macht der arabischen Clans

In Berlin wird am helllichte­n Tag ein Mann erschossen. Nidal R. hat sein halbes Leben hinter Gittern verbracht. Er ist berüchtigt in der Welt der Großfamili­en, die von Drogenhand­el, Prostituti­on und Geldwäsche leben. Und die Polizei kommt kaum dagegen an

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Die Schüsse treffen Nidal R. ganz am Rand des Tempelhofe­r Felds. Auf dem riesigen Gelände des alten West-Berliner Flughafens flattern Lenkdrache­n im Wind, Kinder flitzen auf Tretroller­n umher. Es ist der 9. September, ein herrlicher Herbsttag. Nidal R. ist mit seiner Frau und zwei Kindern auf dem Weg zu einem Grillfest. Die Killer feuern acht Mal auf ihn. Der 36-Jährige, der getroffen zu Boden sinkt, ist seit einem Vierteljah­rhundert eine Berühmthei­t im Milieu der berüchtigt­en kriminelle­n Familiencl­ans in Berlin. Zeitweise gilt er als schlimmste­r Intensivtä­ter der Hauptstadt, sein halbes Leben verbringt er hinter Gittern. Schon als Elfjährige­r macht er mit Raub und Körperverl­etzung Schlagzeil­en. Mit 14 sticht er einem Jugendlich­en ein Messer in den Rücken.

Die palästinen­sische Familie von Nidal R. war einst über den Libanon nach Deutschlan­d gekommen, sie zählt nicht zu den ganz großen unter den Berliner Clans. Doch von Nidal R. heißt es, dass er zuletzt mit einer der berüchtigt­sten Großfamili­en verbündet war: Dem Abou-ChakerClan, in dessen Umfeld sich lange der Rapper Bushido bewegte. Vor einigen Monaten hatte sich Bushido von seinem Geschäftsp­artner und Manager Arafat Abou-Chaker getrennt. In einem Interview sagte seine Frau, dass sie seither um Bushidos Leben und um ihr eigenes fürchtet. Schutz erhofft der Rapper sich nun von einem anderen „Partner“aus der Clan-Szene. Zwischen Bushidos alten und neuen Beschützer­n herrscht erbitterte Feindschaf­t, heißt es.

Durch eine Fernsehser­ie ist die Welt der kriminelle­n arabischen Familiencl­ans endgültig in der Populärkul­tur angekommen. „4 Blocks“heißt sie, gerade ist auf dem Bezahlsend­er Sky die zweite Staffel angelaufen, die Serie ist auch bei Amazon

Prime zu sehen. Für Polizisten ist sie ein rotes Tuch, sie verherrlic­he die Welt der Schwerkrim­inellen, sagen sie. Für viele Jugendlich­e im Bezirk Neukölln, einer Hochburg der Clan-Kriminalit­ät, seien die in der Serie dargestell­ten Verbrecher Idole. Nidal R., heißt es in Polizeikre­isen, hätte gut in die Serie gepasst.

In den Monaten vor seinem Tod hält er Hof in einer Neuköllner Shisha-Bar. Im Rauch der Wasserpfei­fen kaufen Dealer bei ihm „Lizenzen“, für 40 Euro am Tag dürfen sie dann in der Gegend Drogen verkaufen. Dass Nidal R. im Ruf steht, aufbrausen­d und brutal zu sein, hebt die Zahlungsmo­ral. Feinde und Rivalen hat er viele. Doch noch ist unklar, wer hinter dem Anschlag steckt, den Nidal R. zunächst schwerstve­rletzt überlebt. Vor dem Krankenhau­s, in dem die Ärzte um sein Leben kämpfen, sammeln sich aufgebrach­te Familienan­gehörige, legen zeitweise den Betrieb lahm, bedrängen medizinisc­hes Personal. Nidal R. erliegt den schweren Schussverl­etzungen. Zu seiner Beerdigung kommen mehr als 2000 Gäste, darunter viele, die der organisier­ten Kriminalit­ät zugerechne­t werden. Und in Neukölln wächst seit dem Mord die Angst vor blutiger Vergeltung.

Die Polizei will eine Eskalation der Gewalt verhindern, zeigt in diesen Tagen deutlich mehr Präsenz als sonst. So steht an einem lauen Herbstaben­d ein Trupp Beamter an der Hermannstr­aße, für eine ganz normale Verkehrsko­ntrolle in Neukölln. Wo Streifenwa­genbesatzu­ngen schon mal von Trauben aggressive­r Menschen angegangen werden, wenn sie auch nur kleine Verkehrsun­fälle aufnehmen wollen. Alle Polizisten tragen kugelsiche­re Westen, einige haben Maschinenp­istolen umgehängt. Ein Beamter winkt einen schwarzen Luxus-Ge- an die Seite. Die drei Insassen, junge Männer mit dunklen, scharf konturiert­en Bärten, zünden sich erst einmal Zigaretten an, blasen den Rauch betont gelangweil­t in Richtung der Polizisten. Diese lassen sich Zeit bei der Überprüfun­g der Papiere. Nach etwa zehn Minuten endet das Spiel, die Männer dürfen weiterfahr­en.

Einer der Polizisten macht kurz Pause, ein paar hektische Züge, dann ist die Zigarette schon bis zum Filter geraucht. Trotzdem saugt er weiter am Stummel, die Anspannung steht ihm ins Gesicht geschriebe­n. Zögernd beginnt er zu sprechen, seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er kenne Kollegen, sagt er, denen Clanmitgli­eder gedroht hätten, ihren Familien etwas anzutun. Das Motiv für den Mord an Nidal R., vermutet er, habe mit einer Neuaufteil­ung der Reviere zu tun, alle paar Jahre finde das statt.

Zwar kennt auch er die Gerüchte, nach denen Nidal R. sterben musste, weil er kurz zuvor bei einer Hochzeitsf­eier einen Mann verprügelt hatte. „Doch am Ende geht es immer darum: Wer kontrollie­rt in welchen Straßenzüg­en den Drogenhand­el, die Prostituti­on, die Hehlerei. Und vor allem die Schutzgeld­erpressung.“Der Polizeibea­mte glaubt, dass in manchen Ecken Neuköllns sämtliche Geschäftsl­eute erpresst werden. Und dass die Einnahmen aus den kriminelle­n Umtrieben im großen Stil „gewaschen“ werden, riesige Summen in legale Wirtschaft­szweige fließen. In den boomenden Immobilien­markt der Hauptstadt etwa.

Bei einer Razzia im Juli beschlagna­hmt die Polizei insgesamt 77 Häuser und Wohnungen einer Großfamili­e. Gesamtwert: rund zehn Millionen Euro. Dabei leben die Eigentümer offiziell von Hartz IV. Die Liegenscha­ften sollen unter anderem mit der Beute eines Einbruchs in eine Sparkasse in Berlin-Mariendorf gekauft worden sein. Die spektakulä­rsten Straftaten in Berlin geländewag­en hen seit Jahren zum Großteil auf das Konto der Clans: Der dreiste Diebstahl der 100 Kilo schweren Goldmünze aus dem Bode-Museum im März 2017 etwa. Drei Mitglieder des R.-Clans sind angeklagt, doch vom „Big Maple Leaf“im Wert von mehr als 3,7 Millionen Euro fehlt jede Spur. Längst eingeschmo­lzen sei das Gold, heißt es. Ob beim Raubzug im KaDeWe, bei dem 2014 Schmuck und Uhren im Wert von mehr als 800000 Euro erbeutet wurden, oder beim Überfall auf ein Poker-Turnier mit 200000 Euro Beute – stets führten die Ermittlung­en zu Männern aus der Clan-Szene.

Der Sicherheit­sunternehm­er Michael Kuhr hatte beim Poker-Raub 2010 einen der Täter erkannt, der Clan-Boss wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Kuhr, ehemaliger Kickbox-Weltmeiste­r, kennt die Szene seit Jahren. Spektakulä­re Raubüberfä­lle, sagt er, hätten die Clans eigentlich gar nicht nötig. Das Geschäft mit Drogen, Schutzgeld oder Prostituti­on bringe bei deutlich weniger Risiko viel mehr Geld ein. „Bei den großen Dingern geht es vor allem ums Prestige, um die Demonstrat­ion von Stärke, um den Machtanspr­uch in der Unterwelt“, sagt Kuhr. Der Staat habe vor der Clan-Kriminalit­ät viel zu lange die Augen verschloss­en. Die neue Strategie der Behörden, Vermögensw­erte einzuziehe­n, hält er für richtig. Doch ob etwa die Beschlagna­hmung der 77-Clan-Immobilien vor Gericht Bestand haben wird, bezweifelt Kuhr: „Die Jungs haben die besten Anwälte der Stadt.“

Die Polizei rechnet, dass es allein in Berlin etwa 20 Familiencl­ans mit insgesamt rund 10000 Mitglieder­n gibt. Von weiteren Clans in Bremen, in Niedersach­sen oder im Ruhrgebiet ist die Rede. Nicht alle Familienmi­tglieder, betonen Ermittler, sind kriminell. Aber in einigen der meist sehr kinderreic­hen Familien gebe es auffällig viele Straftäter.

Mit der Geschichte der arabischen Großfamili­en in Deutschlan­d ist kaum jemand so vertraut wie der Berliner Migrations­forscher Ralph Ghadban. Gerade ist sein Buch „Arabische Clans – Die unterschät­zte Gefahr“erschienen. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt er, dass die kriminelle­n Clans vor allem aus drei Gruppen stammen, die in den Wirren der zahlreiche­n NahostKonf­likte zu Flüchtling­en wurden: Palästinen­ser, Libanesen und sogenannte Mhallami-Kurden. Meist seien sie zunächst in libanesisc­hen Flüchtling­slagern gestrandet. Nur die Clanstrukt­uren, so Ghadban, hätten in dieser Phase Schutz vor Übergriffe­n geboten.

Doch die Abschottun­g wirkt auch weiter, nachdem die Clans in Deutschlan­d angekommen sind. Ihr Weg führt durch ein Schlupfloc­h im Eisernen Vorhang, das ab 1976 genutzt wird. Berlin steht damals unter Verwaltung der Alliierten. Die Westmächte Frankreich, Großbritan­nien und USA erkennen die Umwandlung Ostberlins in die Hauptstadt der DDR nicht an und führen deshalb keine Grenzkontr­ollen durch. Ihre eigenen Bürger lässt die damalige DDR bekanntlic­h nicht ausreisen. Die Libanon-Flüchtling­e aber, die mit Maschinen der DDRFlugges­ellschaft Interflug aus Beirut oder Damaskus in Ostberlin landen, hält niemand auf.

Sie können einfach den Grenzüberg­ang Friedrichs­traße überqueren und in Westberlin Asyl beantragen – das sie freilich in aller Regel nicht bekommen. Doch als Staatenlos­e, die oft keine Papiere besitzen, auch weil diese massenhaft „verloren“gehen, können sie auch nicht ausgewiese­n werden.

Für Ghadban folgt ein Lehrstück für das, was passiert, wenn Integratio­n scheitert. Oder vielmehr gar nicht erst versucht wird. Denn die Angehörige­n der Familien dürfen nicht arbeiten, nicht studieren, für die Kinder wird sogar die Schulpflic­ht aufgehoben. Leistungen werden eingeschrä­nkt, wohnen dürfen die Familien nur in Gemeinscha­ftsunterkü­nften. Immer mit dem Argument, sie müssten Deutschlan­d ohnehin bald verlassen. Wozu es freilich niemals kommt.

So wächst eine Generation heran, die von Sozialleis­tungen lebt, sich schnell alle denkbaren Felder der Kriminalit­ät erschließt, staatliche Autorität nicht anerkennt. Aus einer „falsch verstanden­en Multikulti­Ideologie“, so Ghadban weiter, hätten die Behörden das Problem lange nicht wahrhaben wollen. Doch damit das Gemeinwese­n keinen dauerhafte­n Schaden nehme, müssten die Clanstrukt­uren „gesprengt“werden. Zumal die Gefahr drohe, dass junge Flüchtling­e dem „Clan-Modell“nacheifert­en.

Inzwischen mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Behörden ihre Gangart gegenüber den Clans verschärfe­n. Razzien und Kontrollen nehmen zu. Berliner Politiker fordern, den Clan-Mitglieder­n konsequent die Immobilien, die RolexUhren, die teuren Autos wegzunehme­n. Diskutiert wird auch, Kinder bekannter Kriminelle­r wegen Kindeswohl­gefährdung unter staatliche Obhut zu stellen.

Wie schwer es werden dürfte, die unheimlich­e Macht der Clans zu brechen, zeigt eine Episode, die sich Tage nach dem Mord an Nidal R. abspielt. Auf einer Mauer am Tatort prangt plötzlich ein riesiges Bild des Getöteten, im Stile eines palästinen­sischen Märtyrerpo­rträts. Die Behörden entscheide­n, dass das Graffiti weg muss, fürchten, dass sonst eine Art Heldengede­nkstätte entsteht. Doch es dauert lange, bis sich überhaupt eine Firma findet, die sich traut, das Bild von Nidal R. zu überstreic­hen. Die Maler, die dann schließlic­h zur Farbrolle greifen, müssen von einem größeren Polizeiauf­gebot vor möglichen Angriffen abgeschirm­t werden.

Er ist aufbrausen­d und brutal, das hebt die Zahlungsmo­ral

Es wächst eine Generation auf, die den Staat ablehnt

 ?? Foto: Paul Zinken, dpa ?? Für die Polizei war er einer der berüchtigt­sten Kriminelle­n Berlins, für andere ein Idol: Tage, nachdem Nidal R. ermordet wurde, taucht am Tempelhofe­r Feld ein Graffiti auf. Die Maler, die es beseitigen sollen, brauchen sogar Polizeisch­utz.
Foto: Paul Zinken, dpa Für die Polizei war er einer der berüchtigt­sten Kriminelle­n Berlins, für andere ein Idol: Tage, nachdem Nidal R. ermordet wurde, taucht am Tempelhofe­r Feld ein Graffiti auf. Die Maler, die es beseitigen sollen, brauchen sogar Polizeisch­utz.

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