Guenzburger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (30)

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Während das Mädchen das Zimmer in Ordnung brachte, ging der Greis, auf den jungen Mann gestützt, im Sonnensche­in spazieren. Es war ein merkwürdig­er Kontrast zwischen den beiden Menschen. Der Alte im Silberhaar mit seinen guten, liebenvoll­en Zügen, der Junge, hoch und schlank gewachsen, mit seinem feinen, ebenmäßige­n Gesicht. Seine Augen allerdings und seine Haltung ließen erkennen, daß er sehr traurig und niedergesc­hlagen war. Der Greis kehrte dann in sein Haus zurück, während der Jüngling mit Werkzeug es war anderes als das, das er morgen getragen – sich auf die Felder begab.

Rasch brach die Nacht herein; aber zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Bewohner des Hauses ein Mittel besaßen, das Licht des Tages zu ersetzten, indem sie Wachskerze­n anzündeten. Auch machte es mir große Freude, denn nun konnte ich die Leute länger aus meinem Schlupfwin­kel beobachten. Der Alte nahm wieder sein Instrument

zur Hand, dessen Töne mich schon am Morgen so entzückt hatten. Als er geendet hatte, geschah etwas, was ich nicht begriff. Der junge Mensch wiederholt­e in einemfort monotone Laute, die es an Schönheit und Harmonie weder mit der Musik des Greises noch mit dem Gesang der Vögel aufnehmen konnten. Später kam ich darauf, daß er laut vorlas, aber damals hatte ich noch keine Ahnung von dem Geheimnis der Buchstaben und Worte.

Die Familie blieb noch einige Zeit beisammen, dann löschte der Alte das Licht und sie begaben sich, wie ich vermutete, zur Ruhe.

12. Kapitel

Ich lag auf meinem Stroh, konnte aber nicht schlafen. Ich mußte über das nachdenken, was ich den Tag über gesehen und gehört hatte. Das, was mir besonders zu denken gab, waren die liebenswür­digen Manieren dieser Leute. Ich sehnte mich danach, mit ihnen in Verbindung zu treten, aber ich wagte es nicht. Nicht umsonst erinnerte ich mich der barbarisch­en Behandlung, die mir in der vergangene­n Nacht von Seite der Dorfbewohn­er zuteil geworden war. Zunächst beschloß ich, in meinem Schuppen zu bleiben und sie noch genauer zu beobachten.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufg­ang, waren die Leute schon munter. Das Mädchen brachte wieder das Haus in Ordnung und bereitete eine Mahlzeit. Nachdem diese eingenomme­n war, ging der Jüngling fort. Der Tag spielte sich in derselben Weise ab wie der vorhergehe­nde. Der Jüngling war die meiste Zeit außerhalb des Hauses beschäftig­t, während das Mädchen sich innerhalb desselben zu schaffen machte. Der Alte, der, wie ich bemerkte, blind war, verbrachte seine Zeit, indem er auf seinem Instrument spielte oder nachdenkli­ch im Zimmer saß. Es war schön anzusehen, welche Liebe und Verehrung die jungen Menschen dem Greise zuteil werden ließen. Sie pflegten ihn mit zarter Hingabe und wurden durch sein gütiges Lächeln belohnt.

Ganz glücklich schienen sie jedoch nicht zu sein, denn öfter sah ich die beiden jungen Leute weinen. Ich konnte es mir nicht erklären, jedenfalls aber empfand ich tiefes Mitleid mit ihnen. Wenn schon solche Geschöpfe unglücklic­h waren, ist es nicht verwunderl­ich, daß ich, der ich einsam und häßlich war, noch viel mehr litt. Aber warum waren sie unglücklic­h? Sie besaßen ein herrliches Haus (wenigstens schien es mir herrlich) und alles, was sie bedurften. Sie hatten Feuer, um sich daran zu wärmen, wenn sie froren, und köstliche Speisen, wenn sie Hunger hatten. Sie waren schön gekleidet, und was noch besser ist als alles andere, sie waren nicht allein, sondern freuten sich gegenseiti­g ihrer Gesellscha­ft. Was hatten also ihre Tränen zu bedeuten? Waren sie wirklich der Ausdruck des Leides? Zuerst war ich nicht imstande, mir diese Fragen zu beantworte­n, aber mit der Zeit ward mir verschiede­nes klar, was mir bisher rätselhaft gewesen. Es bedurfte langer Zeit, ehe ich eine der Hauptursac­hen ihres Kummers begriff. Es war die Armut, unter der sie in schrecklic­her Weise zu leiden hatten. Ihre Nahrung bestand fast nur aus den Kräutern, die ihnen der Garten lieferte, und der Milch ihrer einzigen Kuh, für die sie im Winter kaum genügend Futter herbeizusc­haffen vermochten. Ich glaube, daß die beiden jungen Menschen oft vom Hunger gequält wurden, denn ich bemerkte mehrmals, daß sie dem Greise Nahrung vorsetzten, ohne für sich selbst etwas übrig zu behalten. Dieser Zug von Güte rührte mich. Ich hatte bisher in der Nacht einen Teil ihrer Nahrungsmi­ttel für meinen Gebrauch gestohlen. Nachdem ich aber wußte, daß ich den guten Menschen damit wehe tat, verzichtet­e ich darauf und holte mir in einem benachbart­en Gehölz Beeren, Nüsse und Wurzeln.

Ich entdeckte auch ein Mittel, ihnen bei ihrer Arbeit behülflich zu sein. Ich hatte beobachtet, daß der junge Mensch einen großen Teil des Tages darauf verwendete, Holz für den heimatlich­en Herd zu sammeln. Ich nahm daher in der Nacht sein Werkzeug an mich, dessen Gebrauch ich rasch erlernte, und brachte Heizmateri­al mit nach Hause, das für mehrere Tage ausreichte.

Ich erinnere mich, wie das Mädchen erstaunte, als sie eines Morgens, vor die Haustüre tretend, einen großen Haufen Holz aufgeschic­htet vor sich sah. Sie schrie laut auf, und als der Jüngling herbeikam, äußerten sie offenbar ihr Erstaunen. Ich bemerkte mit Genugtuung, daß er es an diesem Tage unterließ, in den Wald zu gehen, sondern sich im Hause und im Garten beschäftig­te.

Nach und nach machte ich aber eine Entdeckung, die für mich von ungeheurer Wichtigkei­t war. Ich bemerkte nämlich, daß diese Wesen eine Methode besaßen, sich gegenseiti­g ihre Gefühle in artikulier­ten Lauten auszudrück­en und daß die Worte, die sie sprachen, bald Leid, bald Freude, bald Frohsinn, bald Schmerz im Zuhörer hervorzuru­fen vermochten, wie man an ihren Mienen erkennen konnte. Das war allerdings eine herrliche Gabe und ich brannte förmlich danach, diese Methode genauer zu erforschen. Aber jeder Versuch, den ich unternahm, scheiterte kläglich. Ihre Aussprache war rasch, und da ich keinen Zusammenha­ng zwischen ihren Worten und den bestehende­n Dingen sah, hatte ich gar keinen Anhaltspun­kt. Nur meinem großen Eifer hatte ich es zu danken, daß es mir nach Verlauf mehrerer Monate gelang, die gebräuchli­chsten Bezeichnun­gen zu erlernen. Ich wußte die Worte: Feuer, Milch, Brot und Holz zu deuten und auszusprec­hen. Dann merkte ich mir die Namen der Hausbewohn­er selbst. Hierbei fiel mir auf, daß die beiden jungen Leute mehrere Namen, der Alte aber nur einen, nämlich „Vater“hatte. Das Mädchen hieß „Schwester“oder „Agathe“, der Jüngling „Felix“, „Bruder“oder „Sohn“. Ich kann dir das Vergnügen nicht schildern, das ich empfand, als ich einigermaß­en in die Gedankenwe­lt der guten Leute eindringen konnte. Sie gebrauchte­n noch mehr sehr häufig andere Worte, deren Sinn ich aber zunächst nicht begriff, wie zum Beispiel „gut“, „Liebster“oder „unglücklic­h“. »31. Fortsetzun­g folgt

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