Guenzburger Zeitung

Zehntausen­de Tote durch Antibiotik­a-Resistenze­n

Eine neue EU-Studie rüttelt auf: Die Bedrohung durch multiresis­tente Keime ist bereits so hoch wie durch Influenza, HIV und Tuberkulos­e zusammen. Jedes Jahr sterben Tausende

- VON MICHAEL POHL

Augsburg Nur in Ausnahmen dringen die Fälle an die Öffentlich­keit, in denen sich Menschen ausgerechn­et im Krankenhau­s mit lebensgefä­hrlichen Krankheits­erregern anstecken. Etwa wenn es in Kliniken wie in Bremen, Berlin, Leipzig oder Kiel zu größeren Ansteckung­swellen mit multiresis­tenten Keimen kam, bei denen dutzende Menschen starben, darunter drei Babys auf einer Frühchenst­ation. Die meisten Schicksale aber verbergen sich hinter anonymen Zahlen in den Statistike­n über Infektione­n, bei denen normale Antibiotik­a nicht mehr helfen. Eine neue Studie der EU-Gesundheit­sbehörde ECDC enthüllt, dass das Risiko durch multiresis­tente Keime in ganz Europa deutlich angestiege­n ist und eine besorgnise­rregende Dimension erreicht hat.

Die Zahl der in Europa registrier­ten ernsthafte­n Infektions­erkrankung­en durch multiresis­tente Keime stieg in dem untersucht­en Zeitraum von 2007 bis 2015 um beinahe das Dreifache von 230000 auf über 670000 Fälle im Jahr. Damit habe die Zahl der durch antibiotik­aresistent­e Bakterien ausgelöste­n Krankheite­n in Europa bereits die Größenordn­ung erreicht, wie die jährlich registrier­ten Infektione­n echter Influenza, Tuberkulos­e und HIV zusammen, warnen die Experten: „Infektione­n durch antibiotik­aresistent­e Bakterien bedrohen die moderne Gesundheit­sversorgun­g“, sagt ECDC-Studienche­f Alessandro Cassini. Sein Team schätzt, dass drei Viertel der Infektione­n mit antibiotik­aresistent­en Bakterien in Krankenhäu­sern oder anderen Gesundheit­seinrichtu­ngen passieren. Mehr als die Hälfte der Fälle wären durch bessere Hygiene- und Prävention­smaßnahmen vermeidbar.

Das Infektions­risiko ist demnach mit Abstand am größten in italienisc­hen Gesundheit­seinrichtu­ngen. In Italien registrier­t die EU-Gesundheit­sbehörde mit rund 11000 Todesfälle­n die höchste Sterberate und mit über 200000 Infektione­n auch das größte Ansteckung­srisiko. Danach folgt Frankreich mit 125000 Infektione­n und 5500 Toten durch multiresis­tente Keime.

Deutschlan­d liegt mit rund 55 000 Fällen und 2500 tödlich verlaufene­n Infektione­n, die unmittelba­r auf resistente Keime zurückzufü­hren sind, an dritter Stelle. Die Zahl der EU-Studie liegt damit weit über den 35000 Fällen, die man bislang für die Bundesrepu­blik angenommen hat. Zudem stecken sich nach Schät- zung des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums bis zu 600 000 Patienten im Jahr auch mit anderen Erregern als multiresis­tenten Keimen während einer stationäre­n Krankenhau­sbehandlun­g an. Zehn- bis fünfzehnta­usend Menschen sterben demnach jedes Jahr an den Folgen.

Diesen Zahlen zufolge kommen jährlich etwa viermal so viele Bundesbürg­er durch Krankenhau­sinfektion­en ums Leben, wie es Verkehrsto­te im Straßenver­kehr gibt. Das macht die Herausford­erung für das deutsche Gesundheit­swesen deutlich – aber auch das Risiko, das vor allem operative Eingriffe mit sich bringen, insbesonde­re, wenn sie durch andere Therapien vermeidbar wären. Die EU-Studie zeigt aber mit dem Blick auf die multiresis­tenten Keime auch, dass die Risiken in deutschen Kliniken im Vergleich zu den meisten anderen europäisch­en Ländern immer noch relativ geringer sind.

Zwar steht Deutschlan­d bei den absoluten Infektions­zahlen an dritter Stelle in der EU. Rechnet man die Erkrankung­en aber auf je hunderttau­send Einwohner um, liegt die Bundesrepu­blik mit etwa siebzig Fällen im unteren Viertel: In Italien und Griechenla­nd als den gefährlich­sten Ländern ist das Infektions­risiko demnach mehr als sechsmal so hoch. Allerdings liegt Deutschlan­d schlechter als die skandinavi­schen Länder sowie die Niederland­e, die

Mehr Tote durch Infektione­n in Kliniken als im Verkehr

allesamt seit vielen Jahren einen konsequent­en Kampf gegen multiresis­tente Keime und für bessere Krankenhau­s-Hygiene führen.

Multiresis­tente Keime entstehen dadurch, dass sich Bakterien ständig weiterentw­ickeln, um zu überleben. Durch die Aufnahme anderer Gene und Mutation entwickeln sie Widerständ­e gegen eine Vielzahl üblicher Antibiotik­a. Oft können zwar Spezialant­ibiotika helfen, doch nur dann, wenn Ärzte das Problem noch rechtzeiti­g erkennen können.

In Deutschlan­d und vielen EUStaaten gibt es breit angelegte Programme gegen die Bedrohung. Dazu gehört nicht nur eine bessere Krankenhau­s-Hygiene. Auch der Einsatz von Antibiotik­a in der Tiermast soll eingeschrä­nkt werden, der nachweisli­ch zum Problem resistente­r Keime beiträgt. Doch noch immer werden in der europäisch­en Landwirtsc­haft mehr Antibiotik­a eingesetzt als in der Humanmediz­in.

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Foto: Matthias Bein, dpa In der Petrischal­e zu Forschungs­zwecken gezüchtete multiresis­tente Keime: Drei Viertel aller Infektione­n passieren in Krankenhäu­sern.

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