Guenzburger Zeitung

Kino am richtigen Ort

Klappe, die 77.

- VON MICHAEL SCHREINER kino@augsburger-allgemeine.de

Manchmal fügt es sich und der Ort, an dem man ins Kino geht, passt zum Film. Und wo könnte man „Waldheims Walzer“, jenes meisterhaf­t komponiert­e Erinnerung­swerk an eine Staatsaffä­re, sinniger anschauen als dort, wo der Mann mit verleugnet­er und dann enthüllter Nazi-Vergangenh­eit 1986 gegen viele Widerständ­e und Proteste doch Präsident wurde: in Österreich, am „Originalsc­hauplatz“.

Kurt Waldheim, ein Jahrzehnt UN-Generalsek­retär und damit weltweit legitimier­ter Spitzendip­lomat, geriet über Monate unter Rechtferti­gungsdruck, weil mehr und mehr seine über die Nazizeit hinweggesc­hönte Biografie im Licht der Weltöffent­lichkeit demontiert wurde. Das hat daheim eine Gegenöffen­tlichkeit geformt, aber auch tief sitzenden Nationalis­mus heraufbesc­hworen. Ruth Beckermann hat darüber eine Dokumentat­ion ausschließ­lich aus Archivmate­rial geschaffen – mit subjektive­n Kommentare­n und einem bemerkensw­erten Gespür für „sprechende Bilder“. Auf der Berlinale gefeiert, als Österreich­s Beitrag fürs Oscar-Rennen nominiert, ist der Filmessay gleichwohl ein anachronis­tisches Wagnis in der Kinowelt. Quadratisc­hes Bildformat, grieselige ArchivÄsth­etik, TV-Bilder im Kinosaal.

Gesehen habe ich den Film dieser Tage in Graz, im Schubert-Kino, in dem man eine Melange oder ein Achterl an der Bar trinkt, bevor es in einen der drei Säle geht. „Waldheims Walzer“erzählt nicht nur von Kurt Waldheim – es geht in dem Film mindestens ebenso um die österreich­ische Gesellscha­ft und den Kampf auf der Straße, um den Mut, sich einem beängstige­nd tumben „Volksempfi­nden“entgegenzu­stellen. Beckermann nimmt uns mit in eine nicht vergangene Vergangenh­eit – es ist eine Reise in die Finsternis und eine ins Licht. Das Kino in Graz war luftig besetzt. Österreich hat jetzt einen Grünen als Bundespräs­identen.

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