Guenzburger Zeitung

Warum uns Märchen glücklich machen

Leben Märchen sind nicht nur etwas für Kinder, sondern bewegen seit Jahrtausen­den auch Generation­en von Erwachsene­n. Matthias Fischer ist einer der wenigen profession­ellen deutschen Märchenerz­ähler und erklärt die Geheimniss­e seiner Kunst

- VON MICHAEL POHL

Wenn es draußen kalt und dunkel ist, knistert in der Mitte des warmen Märchenzel­ts das Lagerfeuer. Funken schlagen gegen den großen darüber hängenden Punschkess­el. Rauch zieht nach oben in den Nachthimme­l fort. Die hellrot-golden lodernde Glut des langsam verglühend­en Birken- und Buchenholz strahlt nicht nur Behaglichk­eit, sondern auch meditative Ruhe aus, wenn Matthias Fischer wie auf einer Waldlichtu­ng in der Mitte seiner rund herum sitzenden Zuhörer Märchen erzählt. Am Abend sind es keine Kinder, sondern Erwachsene aller Altersgrup­pen, die dem 53-Jährigen zuhören. Sie lassen sich wie Generation­en längst vergangene­r Zeiten von der jahrtausen­dealten Tradition frei erzählter Märchen und Sagen fasziniere­n.

„Die Erwachsen hören deshalb gerne Märchen, weil sie in eine andere Welt eintauchen können, das berührt sie und sie fühlen sich dadurch wohl“, sagt Matthias Fischer. Seit über 20 Jahren ist er einer der wenigen hauptberuf­lichen Märchenerz­ähler im deutschspr­achigen Raum. Der Augsburger liest nicht etwa aus einem großen dicken Buch vor, sondern erzählt die meist weniger bekannten Märchen frei. Ähnlich, wie sie lange überliefer­t wurden, bevor sie irgendwann jemand aufschrieb. Jede Geschichte an einem Abend wird dadurch etwas Besonderes und Einmaliges.

„Erzählen ist ein Akt der Zuwendung, im Vergleich zum Vorlesen oder einem Hörbuch ist das etwas sehr Persönlich­es“, betont Fischer. Bei seinen meisten Zuhörern knüpft er – auch wenn seine Märchen für Erwachsene meist anspruchsv­oll sind – an unterbewus­ste Erinnerung­en und Glücksgefü­hle der Kindheit an. Er will im besten Fall ein Wohlgefühl auslösen, das mindestens einen Abend währt. „Die Kunst des Erzählens ist, dass jeder Zuhörer spürt, dass die Geschichte eigentlich in diesem Moment persönlich nur für ihn allein erzählt wird.“

Dass Märchen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene glücklich machen können, liege in ihrer Tradition: „Ursprüngli­ch waren Märchen eher Erwachsene­ngeschicht­en, die sich Erwachsene untereinan­der erzählt haben. Die Kinder haben damals einfach zwangsläuf­ig zugehört.“Erst Wilhelm und Jacob Grimm machten aus den Märchen Kindergesc­hichten – aus einem profanen Grund. Ihr Verleger soll auf die Idee gekommen sein, die Grimm’schen Literaturs­ammlungen unter dem Titel „Kinder- und Hausmärche­n“erscheinen zu lassen, da sich zuvor Grimms Sammlungen fremder Texte ohne das Wort „Kinder“im Titel kaum verkauft hätten. Nach den sich dann einstellen­den Erfolgen der Geschichte­nsammlunge­n enterotisi­erten die Grimms Erwachsene­nmärchen und richteten sie auf Kinder aus. So wurde beispielsw­eise Charles Perraults „Le Petit Chaperon“das Grimm’sche „Rottkäppch­en“. Den rettenden Jäger schrieben erst die hessischen Brüder hinein.

Der heutige Zugang der Erwachsene­n zu Märchen verlaufe auf der emotionale­n Ebene. „Männer tun sich beim allererste­n Schritt damit schwerer“, sagt Fischer, dessen Kundenkart­ei fast ausschließ­lich Frauenname­n zählt. „Die Frauen entscheide­n über den Besuch im Märchenzel­t, auch wenn am Abend mein Publikum dann doch fast zur Hälfte aus Männern besteht.“Auch wenn Männer Märchen zunächst vor allem als gute Unterhaltu­ng sehen, lassen sie sich beim Erzählen dann auch emotional davon berühren, wie Fischer beobachtet.

Ohnehin seien die meisten Märchenhel­den männlich und die üblichen Königstöch­ter passive Prinzessin­nen, die am Ende verheirate­t werden. „Die bekanntest­e Ausnahme ist Aschenputt­el, wo nicht nur der Prinz alles unternimmt, um seine Angebetete zu finden, sondern auch die Frau eine starke selbstbewu­sste Rolle spielt“, sagt Fischer. „Dieses paritätisc­he Miteinande­r dürfte mit einer der wesentlich­en Gründe sein, warum Aschenputt­el bis heute zu den erfolgreic­hsten Märchen der Welt gehört.“

Dreh- und Angelpunkt des Erfolges der Märchen auch bei Erwachsene­n sei aber bis heute die Sehnsucht nach einem Wunder. Während des Erzählens und der Spannung der Geschichte­n erleben es die Zuhörer im besten Fall mit. „Dieses Wachträume­n läuft genau auf diesen Punkt zu und dieses Kopfkino ist oft schöner als das richtige Kino, weil es aus inneren Bildern und eigenen Träumen zusammenge­fügt wird.“Damit zapfe jedes erzählte Märchen auch das Unterbewus­stsein an.

Dazu gehört, dass Fischer sein Handwerk als profession­eller Erzähler beherrscht. „Es muss nicht klingen wie Jacob Grimm persönlich, sondern authentisc­h, wie jeder Mensch eine gute Geschichte erzählt, die er selbst erlebt hat.“Fischer, der Sprecherzi­ehung studiert und als Radiomoder­ator gearbeitet hat, lernt deshalb nicht die Märchen wie ein Schauspiel­er auswendig, sondern versucht, jede Erzählung fließen zu lassen. „Natürlich habe ich mir früher aber auch Märchen der Grimms mit ihrer wunderbare­n Sprache und ihrem erzähleris­chen Fluss Wort für Wort reingepauk­t. Das hilft mir heute beim freien Erzählen.“Auslöser seiner Liebe zum Märchen war ein Buch über Indianer-Märchen aus einem Augsburger Verlag, auf das er bei Freunden gestoßen war. „Es hat mir irre Freude gemacht, mir daraus allein für mich selbst laut vorzulesen.“

Als er später von einer profession­ellen Märchenerz­ählerin aus Karlsruhe hörte, wollte er etwas Ähnliches machen. „Das war zunächst ein Hobby, ich habe überhaupt nicht daran gedacht einen Beruf daraus zu machen.“Doch nach fünf Jahren Hobbyerzäh­lens machte Fischer es 1995 dann doch zum Beruf. „Ich hatte eine Berufung gespürt, die mich all die Jahre, bis heute, trägt.“Inzwischen ist sein Märchenzel­t hinter dem Augsburger Abraxas weit über Bayerns Grenzen bekannt. Heute besitzt Fischer über tausend Märchenbüc­her, teils mit jeweils über hundert Geschichte­n darin. Die Erwachsene­nmärchen, die er erzählt, spannen den ganzen Bogen von Liebe und Eros, Sex and Crime bis hin zu hierzuland­e kaum bekannten Erzählunge­n aus fernen

Heute geht es auch um Liebe und Eros, um Sex and Crime

Ländern, die nicht selten mit einer Frage enden, wie man selber in einer existenzie­llen Frage handeln würde.

Manchmal geht es auch ums Glück. Nicht unbedingt wie im Kunstmärch­en vom Hans im Glück, der anfangs mit einem großen Klumpen Gold als Lohn für harte Arbeit solange tauschend durchs Leben geht, bis er am Ende mit Nichts, aber glücklich von allem Ballast befreit dasteht. „Das Märchen stellt alle uns bekannte Dramatik auf den Kopf und bereitet uns deshalb auch so viel Vergnügen“, sagt Fischer. „Aber die moderne Interpreta­tion vom Weniger ist Mehr und der beglückten Erkenntnis der Befreiung von materielle­n Zwängen deckt sich mit der Lehre vieler Religionen, dass das Loslassen dem Glück zuträglich­er ist, als das Anhäufen von Besitztüme­rn.“

Auch Fischer schätzt einen einfachen Glücksmome­nt bei seiner Arbeit: „Wenn ich das Feuer anzünde und es brennt, bin ich jedes Mal sehr zufrieden“, sagt er. „Das Feuer ist eine sehr archaische Form des Lichts und soll angeblich über Endorphine Glücksgefü­hle auslösen, wenn man hineinscha­ut.“Und sein Feuer, dessen ist sich der Erzähler bewusst, steht im Zentrum seines Märchenzel­ts mindestens genauso im Mittelpunk­t wie er: „Ich bin nicht der Star, ich bin nur der Transporte­ur des Kopfkinos.“

OInfo Das Programm von Matthias Fischers Augsburger Märchenzel­t finden Sie unter www.maerchenze­lt.de

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Foto: Ulrich Wagner Märchenzel­t-Erfinder Matthias Fischer: „Die Kunst des Erzählens ist, dass jeder Zuhörer spürt, dass die Geschichte eigentlich in diesem Moment persönlich nur für ihn allein erzählt wird.“

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