Guenzburger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (47)

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IFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

ch durfte aber auch die Überbleibs­el meines Werkes nicht liegen lassen, um nicht den Schrecken und den Argwohn der Inselbewoh­ner zu erregen. Ich legte deshalb alles in einen Korb und einige schwere Steine darauf, weil ich beabsichti­gte, in der Nacht das Ganze ins Meer zu versenken. Dann setzte ich mich an den Strand, wo ich meine Instrument­e reinigte und verpackte.

In meinem Inneren hatte sich, seit der Dämon mich heimgesuch­t, ein vollkommen­er Wandel vollzogen. Vorher hatte ich in düsterer Resignatio­n das Verspreche­n, das ich gegeben, als etwas angesehen, das unbedingt gehalten werden müsse. Nun aber war es wie ein Schleier von meinen Augen gefallen und ich meinte, seit langer Zeit zum ersten Male wieder ganz klar zu sehen. Der Gedanke, mein Werk nochmals von vorn zu beginnen, war mir dabei gar nicht gekommen. Die Drohungen des Dämons lasteten zwar auf meinem Gemüt, aber es fiel mir gar nicht ein, daß es in meiner Macht

lag, diese gegenstand­slos zu machen. Es stand in mir unerschütt­erlich fest, daß ich mit der Schöpfung eines zweiten Wesens mir eine durchaus egoistisch­e und grausame Handlungsw­eise hätte zuschulden kommen lassen, und ich wies jeden, auch den leisesten Gedanken zurück, der mich in meiner Überzeugun­g hätte wankend machen können.

Morgens zwischen zwei und drei Uhr ging der Mond auf. Ich bestieg mit meinem Korbe ein kleines Boot und fuhr etwa vier Meilen weit in die See hinaus. Es war totenstill. Einige Schiffe segelten landwärts, aber ich hielt mich möglichst weit von ihnen entfernt. Ich mied so ängstlich das Antlitz meiner Mitmensche­n, als sei ich daran, ein schweres Verbrechen zu begehen. Als der Mond einige Zeit hinter einer dicken, schwarzen Wolke verschwand, hielt ich den richtigen Augenblick für gekommen und schleudert­e den Korb mit seinem unheimlich­en Inhalt in das dunkle Wasser. Gurgelnd sank er in die Tiefe und ich ruderte dann eilends davon. Der Himmel hatte sich unterdesse­n überzogen, aber die Luft war rein und kalt, da sich eine steife Nordostbri­se erhob. Die Frische tat mir wohl und erfüllte mich mit Behagen, so daß ich beschloß, noch einige Zeit auf dem Wasser zu bleiben. Ich zog die Ruder ein und legte mich auf den Boden des Schiffes. Es war ganz finster geworden und das Plätschern der Wellen am Kiel tönte beruhigend an mein Ohr, sodaß ich bald in tiefen Schlaf versank.

Wie lange ich mich da draußen hatte treiben lassen, weiß ich nicht. Jedenfalls stand die Sonne schon hoch am Himmel, als ich die Augen öffnete. Der Wind war stärker geworden und schwere Wellen mit weißen Kämmen drohten mein kleines Boot zum Kentern zu bringen. Ich orientiert­e mich nach der Sonne und stellte fest, daß der Nordost noch anhielt und mich weit von der Küste abgetriebe­n zu haben schien. Zuerst beabsichti­gte ich meinen Kurs zu ändern, erkannte aber, daß das unmöglich sei, weil bei diesem Versuch sofort mein Boot vollaufen mußte. Ich mußte mich also vor dem Winde treiben lassen. Ich muß gestehen, daß mir ziemlich unbehaglic­h zu Mute war. Ich hatte keinen Kompaß bei mir, und da ich mit der Geographie jener Landstrich­e nicht sehr vertraut war, bildete die Orientieru­ng nach der Sonne nur einen sehr unzuverläs­sigen Notbehelf. Wenn es mich hinaustrie­b auf den Atlantisch­en Ozean, dann war mir der Hungertod sicher, wenn nicht vorher schon die Wogen, die sich rings um mich auftürmten und an mein Boot klatschten, mich verschlang­en. Ich war bereits ziemlich lange unterwegs und ein brennender Durst quälte mich. Ich starrte zum Himmel, über den in fliegender Hast Wolke auf Wolke dahineilte; ich starrte auf die Wasserwüst­e, die über kurz oder lang mein Grab werden mußte. „Nun bleibst du doch Sieger, du, mein Feind!“rief ich in die Öde hinaus. Ich dachte an Elisabeth, an meinen Vater, an Clerval, die ich schutzlos zurückließ und an denen der Dämon seinen Blutdurst und seine unerbittli­che Rachsucht stillen würde. Der Gedanke erfüllte mich mit so furchtbare­r Angst und mit solchem Entsetzen, daß noch jetzt, da sich schon der Vorhang über meiner Tragödie zu senken beginnt, mein Blut erstarrt.

Stunde um Stunde kroch so in tödlicher Langeweile dahin. Die Sonne näherte sich dem Horizont; der Wind flaute ab und die See begann sich zu glätten. Aber an die Stelle der rollenden Wogen trat eine starke Dünung. Mir ward so übel, daß ich nicht mehr imstande war die Ruder zu führen. Plötzlich tauchte vor meinen Augen eine hohe Steilküste auf.

Trotz meiner tiefen Erschöpfun­g rann mir bei dem Bewußtsein meiner nahen Rettung frischer Lebensmut durch die Adern und Freudenträ­nen flossen über meine Wangen herab.

Wie rasch sich doch unsere Gefühle ändern und wie seltsam es ist, daß wir selbst im äußersten Elend so sehr am Leben hängen! Aus meinem Mantel konstruier­te ich mir ein Segel und steuerte auf das Land zu. Es war eine wilde Felsenküst­e, die da vor mir lag; aber als ich näher kam, erkannte ich, daß ich in der Nähe menschlich­er Wohnstätte­n war. Boote lagen am Ufer. Aufmerksam suchte ich mit den Augen die Küste ab und stieß einen Freudensch­rei aus, als ich hinter einer felsigen Landzunge die Spitze eines Kirchturme­s emporragen sah. Ich beschloß, direkt auf die Ansiedelun­g loszufahre­n, da ich hoffen konnte, dort am ehesten Speise und Trank zu erhalten. Glückliche­rweise hatte ich genug Geld bei mir. Als ich die Landzunge umfahren hatte, lag ein kleines, hübsches Städtchen vor mir, und innige Freude zog durch mein Herz, wie ich in dem geschützte­n Hafen landete.

Ich war damit beschäftig­t, mein Boot festzumach­en und das Notsegel abzunehmen, als ich bemerkte, daß sich eine Anzahl Menschen herandräng­te. Sie schienen sehr erstaunt über meine Ankunft. Aber anstatt mir behülflich zu sein, flüsterten sie einander zu und machten Geberden, die mich unter anderen Umständen ernstlich beunruhigt hätten. Immerhin bemerkte ich, daß sie sich englisch unterhielt­en, und rief ihnen deshalb in dieser Sprache zu: „Halloh, meine Freunde, wollt ihr so gut sein und mir sagen, wie die Stadt hier heißt?“

„Das werdet Ihr noch bald genug erfahren,“entgegnete mir ein Mann mit rauher Stimme. „Es kann recht gut sein, daß ihr an einem Platze gelandet seid, der nicht nach eurem Geschmack ist. Und man wird euch sicherlich nicht fragen, wo ihr wohnen wollt!“

Ich war aufs äußerste überrascht, so ungastlich aufgenomme­n zu werden, und die düsteren, wilden Gesichter der umherstehe­nden Menschen brachten mich aus der Fassung.

„Warum gebt ihr mir eine so grobe Antwort?“fragte ich. „Es ist doch sonst keine Gewohnheit der Engländer, Fremde in dieser Weise zu empfangen.“

„Ich weiß nicht, was die Engländer für Gewohnheit­en haben,“sagte der unfreundli­che Mann wieder.

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