Guenzburger Zeitung

Der Bombenlege­r

Prozess Das Attentat im April 2017 auf die Fußball-Mannschaft von Borussia Dortmund war ein Mordversuc­h. So sieht es das Gericht. Wie dieses Verbrechen das ganze Land aufwühlte und der Angeklagte Sergej W. auf das Urteil reagiert

- VON DANIEL THEWELEIT

Dortmund Die Hände wie zum Gebet gefaltet. Keine erkennbare Regung. So sitzt Sergej W. im Saal 130 des Dortmunder Landgerich­ts, als der Vorsitzend­e Richter Peter Windgätter das Urteil verkündet. 14 Jahre Haft, unter anderem wegen versuchten Mordes in 29 Fällen, und diverse Schmerzens­geldzahlun­gen. Das ist die Strafe dafür, dass der 29-Jährige am 11. April 2017 den Sprengstof­fanschlag auf den Mannschaft­sbus von Borussia Dortmund verübt hat. W. habe „billigend in Kauf genommen (...), dass Bus-Insassen zu Tode kommen“, sagt Windgätter. Drei Mordmerkma­le seien vorhanden: „Heimtücke, Habgier und der Einsatz gemeingefä­hrlicher Mittel.“Einen direkten Mordvorsat­z konnte die Staatsanwa­ltschaft hingegen nicht nachweisen. Damit bleibt Sergej W. eine lebenslang­e Haft erspart.

Am Ende dieses denkwürdig­en und in Teilen sehr kontrovers geführten Prozesses sind irgendwie alle halbwegs zufrieden, bis auf Sergej W. natürlich. Der im Alter von 13 Jahren aus Russland eingewande­rte Elektrotec­hniker sei „ein sensibler stiller Mensch“und nach diesem Prozess „psychisch und wirtschaft­lich zerstört“, sagt sein Verteidige­r Carl Heydenreic­h. Auch weil aufgrund von Indiskreti­onen intime Details zu seinem Charakter, seinen privaten Problemen und seiner geistigen Verfassung öffentlich verbreitet worden seien. Über das Urteil sei er dennoch „erleichter­t und froh“, so Heydenreic­h. Der Anwalt lässt wie Oberstaats­anwalt Carsten Dombert offen, ob er gegen das Urteil vorgehen wird.

Richter Windgätter hat das Verbrechen schon früh als höchst „außergewöh­nlich“hinsichtli­ch der „Tatausführ­ung, der Motivation und der potenziell­en Opfer“bezeichnet. Denn die bloße Schuldfrag­e war früh geklärt. Schon am zweiten Prozesstag hat W. ein Geständnis abgelegt, zugleich allerdings be- die Sprengsätz­e ganz bewusst so konstruier­t und platziert zu haben, dass keine Menschen ums Leben kommen. Die Frage vor Gericht lautete damit über Monate hinweg, ob es sich bei der Tat tatsächlic­h um einen vorsätzlic­hen Mordversuc­h handelte oder ob W. die Fußballman­nschaft nur bedrohen und womöglich so zum sportliche­n Misserfolg beitragen wollte. Der Plan sah vor, dass die Explosione­n einen Einbruch des Aktienkurs­es der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA verursache­n, was W. durch zuvor erworbene Put-Optionssch­eine, quasi Wetten, einen hohen Gewinn im sechsstell­igen Bereich verschaffe­n sollte.

Oberstaats­anwalt Dombert bezweifelt dagegen, dass der Angeklagte tatsächlic­h Todesopfer vermeiden wollte. Vorige Woche legte er in einem eineinhalb­stündigen Plädoyer dar, weshalb er viele der Angaben von W. für unglaubwür­dig hält. Die Behauptung, er habe die Bomben eigens so gebaut, dass nur Sachschäde­n entstehen, bezeichnet­e er als „Blödsinn“und „hanebüchen­en Unsinn“. Und es gab jede Menge Indizien, die diese Ansicht stützten. Mehrere Sachverstä­ndige sind zu dem Schluss gekommen, dass die Sprengsätz­e „nicht beherrschb­ar“waren.

Verteidige­r Heydenreic­h hielt eine Verurteilu­ng wegen Mordversuc­hs in seinem Schlussplä­doyer dennoch für ausgeschlo­ssen. Es „war keine Tötungsabs­icht vorhanden“, erklärte der Anwalt. Sein Mandant habe darauf vertraut, „dass er die Bomben kontrollie­ren konnte“. Hinzu kämen erhebliche strafmilde­rnde Umstände, schließlic­h habe Sergej W. kurz nach Prozessbeg­inn seine Tat gestanden und sei überaus kooperativ gewesen.

Die Richter finden am Ende einen Weg der Mitte. „Trotz erhebliche­r Strafversc­härfungen“sei „eine lebenslang­e Strafe nicht unerlässli­ch“, sagt Windgätter. Aber der Mordversuc­h bleibt.

In jedem Fall ist das Verbrechen einer der erstaunlic­hsten Kriminalfä­lle der vergangene­n Jahre. Denn durch so einen Anschlag Börsenkurs­e zu beeinfluss­en und damit Gewinne zu machen, ist ein ebenso wie ungewöhnli­cher Plan. Zum Glück flogen die meisten der 65 fingerlang­en Metallbolz­en, die in Harzplatte­n eingegosse­n waren und zu tödlichen Waffen hätten werden können, über das schwarzgel­be Gefährt hinweg.

Es war der frühe Abend des 11. April 2017, als sich der Mannschaft­sbus der Borussia vor dem Hotel „l’Arrivée“am Dortmunder Stadtrand in Bewegung setzte. W. hatte seine Bomben in der Nacht zuvor in einem nahegelege­nen Waldstück gebaut und mit einigem Aufwand – wenn auch für Experten leicht durchschau­bar – Spuren gehauptet, legt, die auf einen Anschlag des Islamische­n Staats (IS) hindeuten sollten. Es stand das Champions-League-Viertelfin­ale gegen AS Monaco bevor. Für den damaligen Trainer Thomas Tuchel und viele Spieler war dieses Duell eine Art zwischenze­itlicher Karrierehö­hepunkt. Die Hoffnung auf den Einzug ins Halbfinale, in den Kreis der besten vier Klubmannsc­haften des Kontinents, war groß. Monaco war kein übermächti­ger Gegner. Doch die Bomben zerstörten den Traum.

Im Bus brach Chaos aus. „Auf den Boden!“, brüllten einige. Der damalige Spieler Nuri Sahin erinkomple­xer nerte sich in einem Beitrag für die Internet-Plattform Players Tribune an dramatisch­e Szenen: „Meine Gedanken rasten. Innerhalb von zwei Sekunden lief mein ganzes Leben an mir vorbei. Ich dachte ans Sterben, aber auch ans Leben. Dann dachte ich an meine Familie. Ich sah meinen fünfjährig­en Sohn, meine einjährige Tochter und meine Frau. Ich konnte sie bei mir fühlen.“

Sergej W. bestellte im l’Arrivée gerade ein Steak vom Lavagrill mit Süßkartoff­eln.

Nach den Explosione­n wurde das Spiel abgesagt und auf den folgenden Tag verschoben. Die Mannschaft funktionie­rte zwar, doch die kostbare Halbfinal-Chance war so gut wie dahin. Die Spieler waren traumatisi­ert. Erst nach dem Abpfiff, nach dem 2:3, „als der Druck abfiel, kam plötzlich alles hoch, viele haben offen geweint“, erzählte Matthias Ginter Wochen später. „In den Tagen danach hat jeder mit jedem gesprochen, in kleinen Gruppen oder vor der gesamten Mannschaft. Wie man schläft, wie es weitergehe­n soll, wie sich die Sicherheit­svorkehrun­gen ändern müssen.“

Ginter hat schon die Anschläge von Paris 2015 miterlebt, als er während eines Spiels mit der Nationalma­nnschaft gegen Frankreich die Detonation­en draußen vor dem Stadion hörte und eine angstvolle Nacht in der Kabine verbringen musste. Hätte in Dortmund nicht „mehr als die Hälfte der Sprengladu­ng den Bus verfehlt, säße ich vielleicht nicht hier“, sagte der jetzige Mönchengla­dbacher später.

Körperlich verletzt wurden lediglich der Spanier Marc Bartra, der am Arm operiert werden musste, und ein Polizist einer Motorrad-Eskorte, der ein Knalltraum­a erlitt und seither arbeitsunf­ähig ist. Etliche Spieler allerdings berichtete­n an den insgesamt 31 Prozesstag­en von ständig wiederkehr­enden Schlafstör­ungen und Angstzustä­nden, einige befinden sich immer noch in Behandlung. Auch die sportlich komplizier­te Folgesaiso­n wird immer wieder mit dem Anschlag in Verbindung gebracht. In der Verhandlun­g ergriff W. irgendwann das Wort und sagte: „Ich möchte mich bei allen entschuldi­gen.“

Trainer Tuchel und viele Fußballer waren am Tag nach dem Anschlag auch deshalb so entsetzt, weil sie eben gleich am Tag nach dem fürchterli­chen Erlebnis das Spiel gegen Monaco nachholen mussten. „Wie Tiere“seien sie behandelt worden, sagte der Spieler Sokratis. Wochenlang stand der Vorwurf im Raum, dass die Dortmunder Klubführun­g viel zu leichtfert­ig einer schnellen Neuansetzu­ng der Partie zugestimmt habe. Die ohnehin schon durch interne Konflikte belastete Stimmung im Verein wurde immer schlechter, am Saisonende musste Tuchel den BVB verlassen. Später sagte der heutige Trainer von Paris St. Germain vor Gericht, dass er ohne diesen Anschlag womöglich immer noch beim BVB wäre.

Die Folgen des Anschlags rief auch Rechtsanwa­lt Alfons Becker in Erinnerung, der die Spieler als Nebenkläge­r vertrat. „Sie sind alle froh, es lebend überstande­n zu haben“, sagt er. Und der glücklichs­te Profi sei wohl der mittlerwei­le in

Die bloße Schuldfrag­e war früh geklärt

Profi Erik Durm hatte besonders viel Glück

England bei Huddersfie­ld spielende Erik Durm. In dessen Sitz im Bus war ein Metallspli­tter eingedrung­en. Doch Durms Stammplatz blieb an dem Tag leer. Er war gar nicht im Aufgebot – verletzung­sbedingt.

Sergej W. hinterließ in den meisten Phasen des Prozesses einen seltsam abwesenden Eindruck. Er sprach selten, einem psychologi­schen Gutachten zur Folge leidet er unter einer narzisstis­chen Störung und einem unterentwi­ckelten Selbstwert­gefühl. Kurz vor seinem verbrecher­ischen Plan war er von seiner Freundin verlassen worden, quälte sich mit Suizidgeda­nken. Er habe den Gewinn seinen Eltern vererben wollten, behauptete er irgendwann.

An diesem letzten Prozesstag hat er sich noch einmal schick gemacht. Er trägt ein weißes Hemd und wirkt aufgeräumt. Aber selbst der Richter wirft am Ende die Frage auf, wie dieser schmächtig­e Mann wohl eine derart lange Haftstrafe verkraften wird.

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Foto: Marcel Kusch, afp Er trägt ein weißes Hemd und wirkt aufgeräumt: Justizbeam­te führen am Dienstag den Angeklagte­n Sergej W. in den Gerichtssa­al. Minuten später spricht der Vorsitzend­e Richter das Urteil.
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Foto: Marcel Kusch, dpa Die Nacht nach dem Attentat: Ermittler des Landeskrim­inalamtes untersuche­n den Mannschaft­sbus von Borussia Dortmund.

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