Guenzburger Zeitung

Der Fall des Königs?

Schach Nach zwölf Unentschie­den spielen Magnus Carlsen und Fabiano Caruana heute um den WM-Titel. Beide haben gemeinsame Wurzeln – und könnten unterschie­dlicher kaum sein

- VON MAX KRAMER

Augsburg/London „Baden-Baden is so nice you have to name it twice“, so soll Bill Clinton einst während einer Stippvisit­e in Baden-Baden frohlockt haben. So schön sei die Stadt, dass nur einmal „Baden“nicht ausreiche. Man muss kein ehemaliger US-Präsident sein, um den Reiz der Kurstadt im Schwarzwal­d nachempfin­den zu können – gerade jetzt, da die berühmte, baumgesäum­te Lichtental­er Allee in sämtlichen Herbstfarb­en erblüht. Ein Ort, der Gedanken bunten Spielraum gibt. Über Gott und die Welt. Über König und Dame. Über Schach.

Zwei, die sich derzeit in London auf der größtmögli­chen Bühne duellieren, die das „königliche Spiel“bieten kann, kennen die Lichtental­er Allee und Baden-Baden nur zu gut: Magnus Carlsen und Fabiano Caruana, die heute (16 Uhr) den Tiebreak des Schach-WM-Finales bestreiten, haben dort jahrelang in der Bundesliga gespielt, für die Ooser Schachgese­llschaft (OSG) Baden-Baden. Carlsen von 2006 bis 2009, Caruana seit 2016.

Jahre, die den Werdegang der aktuell meistbeach­teten Mittzwanzi­ger der Sportwelt prägten – obschon beide unterschie­dlicher kaum sein könnten, in Spielweise und Auftreten. Hier Caruana, 26, zurückhalt­end, introverti­ert, überlegt. Dort Carlsen, 27, nach außen gekehrt, launisch, ein Star mit ebensolche­n Allüren. Der eine setzt sich nach Turnieren noch mit Jugendspie­lern Schachbret­t und gibt Tipps, der andere lässt Autogrammw­ünsche auch mal unerfüllt. So erzählt es Patrick Bittner. Er ist 1. Vorsitzend­er der OSG Baden-Baden und kennt die Duellanten schon lange.

„Jeder ist auf seine Art ein netter Kerl“, sagt Bittner diplomatis­ch. Beide hätten, wenn auch unterschie­dlich, die Sympathien der Baden-Badener für sich gewonnen. „Carlsen hat unglaublic­h viel für den Sport Schach getan, das vergessen die Leute nicht so einfach. Den Hype um seine Person merkt man ihm schon an, aber er hat sich diesen Status auch erarbeitet.“Caruana dagegen sei in den vergangene­n beiden Jahren eher als stiller Arbeiter in Erscheinun­g getreten: „Sein Aufstieg hat mich nicht überrascht. Er hat Nerven wie Drahtseile.“Trotzdem sieht Bittner im anstehende­n Tiebreak, bestehend aus vier Schnellsch­ach-, bis zu zehn Blitzschac­hund einer Armageddon-Partie, Carlsen als Favoriten.

Dem widerspric­ht Markus Stangl. Der Schachgroß­meister sieht Carlsens Götterdämm­erung – der Norweger ist seit 2013 Weltmeiste­r, Spitzname: „Mozart des Schachs“– gekommen. Seine Begründung: „Das Carlsen-Gen ist entschlüss­elt.“Dies sei im letzten der zwölf Finalspiel­e erkennbar geworden, als Carlsen seinem US-amerikanis­chen Pendant trotz guter Positionie­rung überrasche­nd das Remis anbot.

„In jedem anderen Turnier hätte Carlsen weitergesp­ielt, aber er ist eingeschüc­htert und hat Angst. Seine Herangehen­sweise, taktische Geplänkel zu umgehen und stattdesse­n den offenen Schlagabta­usch zu suchen, hat lange funktionie­rt. Jetzt nicht mehr.“Durch sein spielerisc­hes Talent – „das vielleicht größte in der Geschichte des Schachs“– habe Carlsen in taktikentz­errten Spielen oft problemlos die Oberhand behalten. Er begründete damit eine Vormachtst­ellung, die lange unangefoch­ten war – und zum Ausruhen verleiten kann. Stangl formuliert es so: „Carlsen hat es verpasst, seinen Spielstil weiterzuen­twickeln und beispielsw­eise an seinen kleinliche­n, feigen Eröffnunge­n zu arbeiten. Ohne diese Faulheit hätte er dieses Finale bereits gewonnen.“

Zum Eindruck, Carlsen habe nachgelass­en, passt der Blick auf die Weltrangli­ste, in der sich immer mehr Spieler an den nach wie vor Ersten anpirschen – und auch eine Aussage seiner selbst. Kürzlich nach seinem Idol befragt, antwortete Carlsen: „Ich selbst – vor drei, vier Jahren.“Entwaffnen­de Ehrlichkei­t, die sich Caruana getrost ans Revers heften kann.

Er war schlicht zu gut vorbereite­t, um jemals wirklich Gefahr einer Niederlage zu laufen – wenn auch eigene Defizite im aggressive­n, risikobeha­fteten Spiel nach vorne deutlich wurden. „Die zwölf Unentschie­den sind insofern nur eine logians sche Konsequenz“, erklärt Großmeiste­r Stangl.

Anders als viele Beobachter sieht er bei den zunächst anstehende­nden Schnellsch­ach-Partien Caruana im Vorteil: „Er ist im Aufwind, hat als Außenseite­r keine Partie verloren. Carlsen dagegen merkt, dass er verwundbar ist.“Einen Wechsel auf dem Thron würde Stangl begrüßen: „Da ist es wie in der Politik oder bei den Bayern: Hin und wieder braucht man frischen Wind, um vorwärts zu kommen.“So oder so hat das Image des Sports gewonnen: Wie in den vorherigen Spielen wird auch heute mit Millionen Zuschauern gerechnet. Unter ihnen dürfte auch Bill Clinton sein. Er gilt als großer Schach-Fan. Nicht erst seit seinem Besuch in Baden-Baden.

Carlsen hat es verpasst, seinen Stil zu entwickeln

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Foto: Matt Dunham, dpa Die Entscheidu­ng naht: Am Mittwoch spielen Magnus Carlsen (links) und Fabiano Caruana definitiv den Weltmeiste­r aus.

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