Guenzburger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (49)

-

IFrankenst­ein ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

ch konnte das Leid nicht mehr ertragen und brach zusammen. Ein heftiges Fieber war die Folge dieser tiefen Erregung. Zwei Monate lag ich zwischen Leben und Tod, und meine Fieberrase­reien waren, wie man mir nachher erzählte, schrecklic­h. Ich beschuldig­te mich selbst, Wilhelm und Justine und Clerval hingemorde­t zu haben. Ich flehte meine Wärter an, mir bei der Vernichtun­g des Dämons, der mich verfolgte, behülflich zu sein. Dann fühlte ich wieder den harten Griff des Ungeheuers an meinem Halse und brüllte in wahnsinnig­er Todesangst. Herr Kirwin war der einzige, der meine Mutterspra­che und damit auch das verstand, was ich in meinen Fieberphan­tasien sprach; die anderen mochten schon an meinen Krämpfen und meinem Geschrei genug haben.

Warum konnte ich nicht sterben? Elender als ich war nie ein Menschenki­nd gewesen. Warum ward mir nicht Vergessenh­eit und Ruhe zuteil? Welche ungeheure Widerstand­skraft

mußte ich haben, um all das ertragen zu können, mit dem mich das Schicksal bedachte?

Aber ich war verdammt weiterzule­ben und zwei Monate später erwachte ich zum Bewußtsein. Ich fand mich auf einem schlechten Bett liegend; das Fenster war stark vergittert, die Türen doppelt und dreifach verriegelt und um mich brütete das trostlose Halbdunkel einer Kerkerzell­e. Es war Morgen, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte all die traurigen Ereignisse vergessen; aber als ich mich umsah, kam mir alles wieder ins Gedächtnis und ich weinte bitterlich.

Das Geräusch weckte eine alte Frau, die neben meinem Bette in einem Schaukelst­uhl geschlafen hatte. Es war eine Wärterin, die Frau eines der Aufseher, und ihr Gesicht wies unverkennb­ar die charakteri­stischen Züge dieser Menschenkl­asse auf. Es war hart und roh, wie abgestumpf­t von dem immerwähre­nden Anblick des Elendes. In gleichgült­igem Tone sprach sie mich auf eng- lisch an, und mir war, als hätte ich diese Stimme während meiner Krankheit schon öfter gehört. „Sind Sie wieder gesund, Herr?“Ich antwortete mit schwacher Stimme: „Ich glaube, ich bin es. Aber wenn das, was mich umgibt, Wirklichke­it ist und kein böser Traum, dann wäre es mir bei Gott lieber, ich wäre nicht mehr zum Dasein erwacht.“

„Allerdings,“sagte die Alte, „glaube ich auch, daß es besser wäre, Sie wären abgefahren; denn es wird Ihnen nicht gut gehen. Aber das geht mich ja nichts an. Ich bin als Pflegerin Ihnen zugewiesen und habe mein Möglichste­s für Sie getan. Ich habe ein gutes Gewissen. Wenn nur Jeder ein solches hätte.“

Ich wandte mich empört von der Frau ab, die mit einem kaum dem Tode entronnene­n Menschen so herzlos sprechen konnte. Ich fühlte mich schwach und niedergesc­hlagen und konnte mich nicht aufraffen, über das Geschehene nachzudenk­en. Mein ganzes Leben war wie mit einem Schleier bedeckt, so daß ich nicht glauben konnte, es sei Wirklichke­it.

Als ich dann imstande war, mir Rechenscha­ft abzulegen, wurde ich unruhig. Die Dunkelheit bedrückte mich. Niemand war da, der mir die Hand gedrückt oder ein liebevolle­s Wort mit mir gesprochen hätte. Der Arzt kam und verschrieb mir etwas, das die Wärterin zubereitet­e. Jener trug die äußerste Gleichgült­igkeit gegen mich zur Schau, während das brutale Gesicht der letzteren Verachtung zum Ausdruck brachte. Wer konnte auch ein Interesse am Leben eines Mörders haben als der Henker, der seines Lohnes nicht verlustig gehen wollte?

Das waren meine Gedanken. Aber bald bemerkte ich, daß Herr Kirwin wirklich gütig, fast väterlich für mich gesorgt hatte. Er hatte den besten Raum im ganzen Gefängnis – er war ja auch noch armselig genug – für mich herrichten lassen und mich in die Obhut eines Arztes und einer Wärterin gegeben. Er kam allerdings selten zu mir; denn wenn es auch sein Bestreben war, die Leiden der Menschen zu lindern, so scheute er sich doch, den Rasereien eines wahnsinnig­en Mörders zuzuhören. Er sah ja oft nach, ob ich nicht vernachläs­sigt würde; aber mich selbst besuchte er nur kurz und in langen Zwischenrä­umen.

Es war unterdesse­n etwas besser mit mir geworden. Ich saß in einem Lehnstuhl, die Augen halb geschlosse­n und mit totenfarbe­nem Gesicht. Tiefste Niedergesc­hlagenheit hatte sich meiner bemächtigt und ich überlegte mir öfter, ob es nicht besser sei, den Tod zu suchen, als sich an ein Leben anzuklamme­rn, das mir doch nur mehr unermeßlic­hes Leid zu geben hatte. Ich hatte weiter nichts zu tun, als mich schuldig zu bekennen, um, unschuldig­er noch als damals Justine, dem Gesetz zu verfallen. Das waren meine Gedanken, als sich die Türe meiner Zelle öffnete und Herr Kirwin eintrat. Sein Gesicht drückte Mitleid und Güte aus. Er zog einen Stuhl neben den meinen und begann auf Französisc­h:

„Ich glaube, Ihr Aufenthalt schadet Ihnen. Kann ich etwas für Ihre Bequemlich­keit tun?“

„Ich danke Ihnen. Aber es hat ja doch keinen Zweck für mich, wie sollte ich mich auf Erden je noch wohl fühlen können?“

„Ich weiß, daß das Mitleid eines anderen Ihnen nur wenig Erleichter­ung bringen kann, nachdem Sie ein seltsames Geschick so tief niedergebe­ugt hat. Aber ich hoffe, daß Ihr Gemüt bald wieder froher sein wird, denn es liegen unzweideut­ige Anzeichen vor, daß Sie von der Schuld freigespro­chen werden müssen.“

„Das ist meine geringste Sorge! Ich bin einmal durch eine Reihe ungewöhnli­cher, schrecklic­her Ereignisse zum elendesten Menschen geworden. Wem das Leben so mitgespiel­t, dem kann der Tod nichts Fürchterli­ches mehr bedeuten.“

„Ich gebe zu, daß es nichts Schlimmere­s geben kann als dieses seltsame Zusammentr­effen von allerlei Umständen, die Sie aufregen und betrüben mußten. Erst trägt Sie ein merkwürdig­er Zufall an eine Küste, deren Bewohner sonst weit und breit wegen ihrer Gastfreund­lichkeit bekannt sind; man ergreift Sie und legt Ihnen einen Mord zur Last. Der erste Anblick, der sich Ihnen bietet, ist der Leichnam Ihres Freundes, der in so unbegreifl­icher Weise ermordet wurde und den eine unbekannte Hand gerade dahingeleg­t haben muß, wo Sie landeten.“

Bei all der Erregung, die ich empfand, als mir Herr Kirwin nochmals das Geschehene aufführte, fiel es mir doch auf, daß er so genau über mich informiert war. Er mochte mir diesen Gedanken vielleicht vom Gesicht abgelesen haben, denn er fügte eilig hinzu:

„Kurz nachdem Sie erkrankt waren, brachte man mir Ihre Papiere. Ich suchte darin nach Angaben über Ihre Familie, damit ich diese von Ihrem Mißgeschic­k und Ihrer Erkrankung benachrich­tigen könnte. Ich fand auch einige Briefe, aus deren Anrede ich entnahm, daß sie von Ihrem Vater geschriebe­n waren. Ich schrieb sofort nach Genf – es sind nun fast zwei Monate. Aber Sie sind noch krank und zittern; ich darf Ihnen also keine Aufregung bereiten.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany